Während des Deutsch-Französischen Krieges drängten die Deutschen die französische Armee Bourbaki auf Schweizerboden ab. Bei grimmiger Kälte überschritten in den ersten Februartagen des Jahres 1871 rund 88‘000 Mann völlig kampfunfähig, ausgehungert und in beinahe aufgelöster Ordnung bei Les Verrières und Ste-Croix die Schweizer Grenze. Die Truppen wurden entwaffnet und interniert
10. Der Kanton Zürich hatte rund 11‘000 Franzosen aufzunehmen, verteilt auf die fünf Kantonierungsbezirke Zürich, Winterthur, Uster, Wädenswil und Bülach
11. Wädenswil bildete zusammen mit Richterswil, Horgen, Küsnacht, Stäfa und Thalwil den 4. Kantonierungsbezirk. Dieser unterstand dem Kommando von Oberstleutnant Bindschedler, der am 13. Februar im
«Engel» Wädenswil sein Hauptquartier aufschlug
12. Zürcherisches Militär besorgte in allen 23 Internierungsorten den Bewachungs- und Ordnungsdienst.
Wädenswil war bereit, 500 Internierte aufzunehmen13. Die Hauptleute Jean Schnyder und Walter Hauser trafen im Auftrag des Gemeinderates die Vorbereitungen für die Einquartierung. Als Unterkunft stellte man das Dorfschulhaus in der Eidmatt zur Verfügung, als Kochstelle das Ökonomiegebäude unterhalb des Schulhauses am Rande des heutigen Rosenmattparks, als Lazarett das Schützenhaus am Rotweg, als Arrestlokal die Turnhalle. Die Kleider konnten im Armenhaus am Plätzli gewaschen werden. Für die Dauer der Einquartierung wurde der Primarschulunterricht ins Sekundarschulhaus verlegt14.
Am Nachmittag des 4. Februars kamen 489 französische Soldaten, von zwei Offizieren begleitet, mit dem Dampfschiff in Wädenswil an. «Die Mannschaften sehen über Erwarten gut aus», kommentierte der «Anzeiger»15. Der Gesundheitszustand war zufriedenstellend. Man zählte lediglich 23 Mann mit leichten Erkältungskrankheiten. Schwerkranke und Verwundete gab es im Wädenswiler Internierungskontingent nicht. Im Gegensatz zu andern Internierungsorten hatte man hier unter dem fremden Militär keine Toten zu beklagen.
Die Ausrüstung war indessen mangelhaft. Es fehlte vor allem an Hemden, Strümpfen und Schuhwerk. «Auch wäre es gewiss vielen sehr lieb», schrieb der «Anzeiger», «wenn man ihnen neu ankommende französische Zeitungen abtreten würde»16. Am 6. Februar rief Walter Hauser die Wädenswiler zu einer Sammelaktion für das französische Militär auf. Die Inserate in der Lokalzeitung hatten Erfolg. Bis zum 10. Februar wurden gespendet17: 293 Hemden, 12 wollene Hemden, 109 Paar wollene Strümpfe und Socken, 185 Paar baumwollene Strümpfe, 40 Unterleibchen, 57 Paar Unterhosen, 15 Paar Hosen, 5 Röcke, 14 Westen, 146 Taschentücher, 51 Paar Schuhe, 27 Paar Stiefel, 13 Paar Finken, 14 Halsbinden, Wäsche und Wein für die Kranken, ferner 11/2 Zentner Soda, 1 Zentner Seife, 4000 Zigarren, 1 Käselaib, Kaffee und Zucker, 420 Mass Wein und 144 Franken in bar. Die Gaben wurden im Sekundarschulhaus entgegengenommen, inventarisiert und dann durch die Chefs in den Zimmern verteilt. In der Feldküche waren Gemüse, Kartoffeln, Rüben und Äpfel besonders willkommen. Dass einzelne Wädenswiler ihre Spenden den Internierten direkt zukommen liessen, missbilligte indessen das Komitee, denn dadurch war die gerechte Verteilung der Gaben in Frage gestellt18.
Die Wädenswiler Bevölkerung war mit den Internierten zufrieden. Lobend hob die Lokalzeitung hervor, die Franzosen benähmen sich sehr höflich, mehrere Franctireurs gehörten den besseren Klassen an, und der Ausdruck «Gesindel», den man namentlich in deutschen Blättern finde, treffe auf dieses Korps nicht zu 19.
Während die Offiziere sich frei bewegen konnten, selbst für Verköstigung und Unterkunft zu sorgen hatten und Zivilkleider tragen durften, war die Mannschaft recht streng gehalten. Um eine einheitliche Behandlung der Internierten zu garantieren, wurde ein für alle zürcherischen Unterkunftsorte gültiger allgemeiner Tagesbefehl erlassen20:
06.30 Tagwache und Frühverlesen
07.00 Fassen, Kochen, Instandstellen der Lokale, Reinigungsarbeiten
08.00 Hauptverlesen, Arbeitsdienst, Bewegung im Freien
10.30 Verlesen, Mittagessen, Reinigungsarbei ten
12.30 Beschäftigung und Bewegung im Freien
14.00 Hauptverlesen, Aufenthalt im Zimmer
15.30 Ausgang
17.00 Appell, Abendsuppe
19.00 Retraite
20.00 Lichterlöschen
Bereits am 9. Februar vertrat der «Anzeiger» die Ansicht, man dürfte den Soldaten etwas mehr Freiheit gewähren. Sie seien ja keine Kriegsgefangenen, und mehr Bewegung sei auch in gesundheitlicher Hinsicht zu empfehlen. Wenn man die Internierten gefangen halte, wecke man den Geist der Unzufriedenheit und der Revolution. «Hoffentlich wird es noch nicht so weit gekommen sein, dass die Furcht vor unserem deutschen Nachbarland uns abhält, gegen die Internierten gerecht zu sein», folgerte der Berichterstatter. In der Tat scheint die Behandlung nachher etwas weniger streng geworden zu sein. Die Fremden durften nun allein ausgehen, und von Zeit zu Zeit unternahm man gemeinsame Ausmärsche in die Umgebung, so nach der Au, wo die Bauern den Leuten Brot und Wein spendeten. Auch «Bocken» ob Horgen, damals noch eine Wirtschaft, wurde besucht. Bei einem Ausflug nach Schönenberg marschierten die Trommler des Kadettenkorps Wädenswil an der Spitze, und beim Einzug in Schönenberg ertönten Böllerschüsse zur Begrüssung. Einzelnen Handwerkern unter den Internierten wurde nun auch gestattet, bei Wädenswiler Gewerbetreibenden Arbeit anzunehmen. Sie durften sich von morgens acht Uhr bis abends fünf Uhr in deren Werkstätten aufhalten und erhielten den ortsüblichen Lohn.
Im Verlaufe des Monats März 1871 reisten die internierten Bourbaki-Soldaten aus der Schweiz nach Frankreich zurück. Am 7. März verliess die berittene Gendarmerie die Stadt Winterthur21, am 8. März nahm das 92. Linienregiment von Zürich Abschied. Der Zürcher Tonhallekrawall vom 9. März − die Störung eines deutschen Siegesfestes. welche Polizei- und Militäraufgebote notwendig machte − verzögerte indessen die Rücktransporte22. Weil aber die Wachtmannschaft bereits aus Wädenswil abgezogen worden war, musste der Gemeinderat am 11. März die Auszugsmannschaft der Dorfsektion aufbieten23. Am 17. März morgens zehn Uhr reisten die Internierten, die sich von den Kriegsstrapazen gut erholt hatten, im Extraschiff von Wädenswil ab. Eine Menge Volk begleitete die Bourbaki-Soldaten zum Seeplatz und verabschiedete sie mit Vivatrufen24.
Tags zuvor hatten die Gäste der Wädenswiler Bevölkerung mit dem folgenden, im Original französisch abgefassten Schreiben, für die freundliche Aufnahme und die spontane Hilfe gedankt25 :
«An die Einwohnerschaft von Wädenswil.
Nach unglücklichen Kämpfen genötigt, die Gastfreundschaft der Schweiz in Anspruch zu nehmen, wurden wir da auf die grossherzigste Weise und mit den aufrichtigsten Sympathien aufgenommen. Wir alle sind davon lebhaft gerührt. Wir hielten die Schweiz für ein kleines Land, aber Eure grossartigen Institutionen, Eure erhabenen Freiheiten zeigen uns, dass auch ein kleines Land ein grosses Volk beherbergen kann. Für Frankreich hat eine neue Ära begonnen; möchte es dabei die Schweiz nachzuahmen suchen!
Wädenswil wurde uns als Aufenthaltsort angewiesen. Schon der Empfang hatte uns mit Freude erfüllt, und wir wurden sofort inne, dass wir uns bei Freunden befanden. Einwohner von Wädenswil! Wozu noch viele Worte, um Euch unsere Erkenntlichkeit auszudrücken? Aus dem Tiefinnersten unserer Herzen sagen wir Euch Dank, tausendmal Dank für alles Gute, das Ihr uns erwiesen habt. Seid überzeugt, dass wir, zurückgekehrt in unser Vaterland, Euch ein ewiges Andenken bewahren werden.
Die französischen Internierten.