Elisabeth Rellstab (1843−1904)

Quelle: «Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee», 27. April 1957 von Peter Ziegler

Mit dem behäbigen Bauernhause «Zum Untern Lehmhof» in Wädenswil ist der Name einer Frau verbunden, die ihre ganze Lebenskraft uneigennützig in den Dienst kranker Mitmenschen gestellt hat: Elisabeth Rellstab.
Am 13. Dezember 1843 geboren, verlebte Liseli glückliche Jugendjahre auf dem Hofe ihres Vaters, eines tüchtigen Landwirts, Gemeindepräsidenten und Scharfschützenhauptmanns. In der Gemeindeschule erwarb sich das begabte, fleissige und strebsame Mädchen eine solide Ausbildung und wäre dann gerne an eine höhere Schule übergetreten. Aber das Studium schickte sich damals nicht für Bauerntöchter, und überdies war die kränkelnde Mutter darauf angewiesen, dass ihr die Tochter zur Seite stand und den grossen Haushalt führen half.
Neben den Hausarbeiten, die Elisabeth treu und ohne viele Worte verrichtete, fand sich immer noch genügend Zeit zur Weiterbildung. Mit besonderer Vorliebe erlernte das Mädchen durch Lesen Sprachen. Mit unermüdlichem Fleiss eignete es sich vorerst das Latein an; im Jahre 1863 durfte Elisabeth einige Wochen auf dem Bauernhofe ihres Grossonkels, Johannes Rellstab, in Monneaux bei Château Thierry (Champagne) zubringen, um Französisch zu lernen.
Elisabeth Rellstab.
Von entscheidendster Wichtigkeit für das Leben und Wirken von Elisabeth Rellstab waren die Ereignisse des Jahres 1870. Am 19. Juli erklärte Frankreich den Preussen leichtfertig den Krieg, der schon nach den ersten Schlachten eine schlimme Wendung für Frankreich brachte. «Wie geht es wohl dem Grossonkel Johannes in Monneaux? So fragte man sich auf dem Lehmhof in Wädenswil tagtäglich. Und im August litt es Elisabeth Rellstab nicht mehr länger in der Schweiz. Sie musste hinüber nach Frankreich, um dem kinderlosen Onkel beizustehen. Mutig, entschlossen und unerschrocken trat die 26-Jährige am 18. August 1870 die weite Reise nach Frankreich an. Von Basel aus versuchte sie über Strassburg nach Paris zu gelangen. Die einzige Eisenbahnlinie war aber bereits mehrfach unterbrochen, und vormarschierende deutsche Truppen hielten das Elsass besetzt. So reiste Fräulein Rellstab über Genf und traf am 20. August in Monneaux ein, einem Dörfchen, das 80 Kilometer von Paris entfernt in der Champagne liegt. Müde und fiebrig erreichte Elisabeth das Gut ihres Onkels. Sie wurde von der Haushälterin empfangen, die erschrocken die Hände über dem Kopf zusammenschlug und ausrief: «Mon Dieu, elle va mourir!» Nach einigen Tagen erholte sich die Kranke. Überall wurde jetzt vom Krieg gesprochen. Metz und Sedan waren gefallen. Mit Schrecken erwartete man auch in Monneaux und Château Thierry den Einmarsch der Preussen. Am 11. September hallte Trommelwirbel; preussische Unteroffiziere erschienen im Hause des Onkels Rellstab und verlangten Quartier.
Monneaux. Aufnahme von 1868.

Johannes Rellstab wollte die Fremden in seinem Hause mit einer auswendig gelernten Rede empfangen. Beim Anblick der bärtigen Gesichter, der blauen Uniformen und blitzenden Säbel vergass er aber seine Worte. Zum Glück blieb Elisabeth Rellstab ruhig. Entschlossen trat sie vor die Fremden hin und grüsste mit den Worten: «Meine Herren, hier sind Sie auf neutralem Boden, wir sind Schweizer!» Die beiden Unteroffiziere, sichtlich erfreut, mit jemandem Deutsch reden zu können, reichten den zwei die Hand zum Gruss. «Die Neutralität soll nach Kräften respektiert werden, erwiderte der eine. «Die andern Häuser haben bis 15 Mann Einquartierung, dieses Haus bekommt 5». Und dann schrieb der Gefreite mit Kreide auf die Haustür: «Fouriere».
Für Elisabeth Rellstab kam nun eine strenge Zeit. Dem sehr sorgfältig und ausführlich geführten Tagebuch entnehmen wir, dass sie als Dolmetscherin manches Missverständnis und manche Streitigkeit zwischen den Einwohnern von Monneaux und den preussischen Soldaten zu schlichten hatte.
Am 14. September wurden in Château Thierry vier preussische Lazarette aufgeschlagen: im Hotel Dieu, im unbewohnten Haus des Fabeldichters Lafontaine und in zwei Schulgebäuden. Deutsche Feldärzte und französische Klosterschwestern taten hier für die verwundeten und zum Teil schwer erkrankten Soldaten das Allernötigste. Täglich machte der protestantische Pfarrer von Vaux seine Spitalbesuche. Am 15. September lud er Fräulein Rellstab ein, ihn einmal zu begleiten. Gerne nahm Elisabeth die Einladung an, und noch am selben Tage pilgerten die beiden nach Château Thierry, wo just der König von Preussen mit Bismarck und den Generälen im Quartier lag. «Mit ernstem Blick», so lesen wir in Elisabeth Rellstabs Tagebuch, «schaute der General Moltke nach unserer Seite hinüber, so dass wir sein bleiches, gedankenvolles Gesicht ganz gut sahen.»
Erwartungsvoll betrat die junge Schweizerin das Lazarett im Hotel Dieu, auf dessen Dach die weisse Fahne mit dem roten Kreuz wehte. Ein freundlicher Arzt geleitete Elisabeth von Saal zu Saal. Überall las der Pfarrer einen kurzen Abschnitt aus der Bibel vor, betete und fragte dann die Kranken, was ihnen fehle und ob sie zu schreiben wünschten. Elisabeth Rellstab verlangte Tinte und Papier, suchte geduldig mit den Leidenden ins Gespräch zu kommen und setzte dann für mehrere Soldaten ergreifende Briefe an die Angehörigen auf.
Nur ungern liess der Lagerarzt Dr. Hallmayer, das tapfere Mädchen an jenem Abend nach Monneaux zurückkehren. Er wusste, dass Elisabeth Rellstab den Kranken in den wenigen Stunden lieb geworden war. «Könnten Sie nicht in meinem Hospital bleiben?» Fräulein Rellstab lehnte entschieden ab: «Ich wohne bei einem alten Onkel, und zum Hierbleiben habe ich weder von ihm noch von meinen Eltern Erlaubnis.»
Der Lazarettbesuch hatte Elisabeth Rellstab in Monneaux in eine schwierige Lage gebracht, sowohl in der Familie des Onkels als auch bei dessen Freunden. Man fand es unschicklich, dass sich ein Mädchen «so frei in den Spitälern vor all diesen jungen Soldaten bewege». Elisabeth liess sich aber nicht abhalten, schon am 18. September wieder nach Château Thierry zu gehen. Ein Höherer hatte ihr diesen Weg dahin gewiesen, und seinem Rufe musste sie folgen. Sie wusste, dass die Kranken ihrer harrten, dass sie sicher wieder trösten konnte und Briefe schreiben musste.
Zwei Seiten aus dem Tagebuch von Elisabeth Rellstab.

Tag für Tag besuchte Elisabeth Rellstab die Spitäler. Sechs volle Wochen lang opferte sie sich auf. Sie tröstete die Leidenden, brachte ihnen Bücher und Kalender und schrieb Dutzende von Karten und Briefen. Die Kranken suchten Fräulein Rellstab und verlangten nach ihr. Wo sie auftauchte, glitt ein müdes Lächeln über die schmerzverzerrten Gesichter, da kehrte Friede ein.
Der Aufenthalt in Château Thierry war für Elisabeth Rellstab eine segensreiche, aber auch äusserst harte Zeit. Hunger, Krankheit und Tod waren um die junge Wädenswilerin her. Und welch schreckliche, erschütternde Bilder boten sich ihr in den Lazaretten: In niedrigen, kalten und düstern Räumen lagen die Kranken auf ihren Matratzen. Überall roch es widerwärtig nach Chlor. Unheimliche Stille herrschte in den Gängen und Zimmern. Nur dann und wann wurde sie durch das unverständliche Rufen eines Fiebernden unterbrochen. Hier lechzte einer nach Wasser, da gellte der Schrei eines Sterbenden. Der Typhus hatte verheerend überhandgenommen. Die Ärzte mit ihren wenigen Medikamenten waren machtlos. Zu Dutzenden starben junge Leute dahin. Matt und ächzend lagen die an Typhus Erkranken da, mit schwarzroten Lippen und schmerzverzerrtem Mund. Die dunkelgelben Gesichter trugen grosse, schwarze Flecken. Lästige Fliegen setzten sich scharenweise darauf fest. Niemand hatte die Kraft, sich ihrer zu erwehren.
Tag für Tag brachten Karrenzüge aus Paris neue Ruhr- und Fieberkranke in die Lazarette. Die Krankenwärter waren entmutigt. Die meisten waren betrunken, fluchten, schrien und misshandelten ihre Patienten. Auch die Klosterschwestern verhielten sich intolerant.
Elisabeth Rellstab aber diente rastlos. Trotz Wind und Regenwetter machte sie jeden Tag den weiten Weg von Monneaux nach Château Thierry. Sie musste Dr. Hallmayer beistehen. Man durfte den Mut nicht sinken lassen; die Kranken bedurften der Hilfe. Und Elisabeth war glücklich, dass sie helfen konnte. Aber eines drückte sie: Die Franzosen wollten sie hindern, in die preussischen Lazarette zu gehen. Überall lauerte man ihr auf, zeigte man mit Fingern auf sie, die Verräterin. Was hatte sie getan?
Anfang Oktober 1870 trat Dr. Hallmayer als Lagerarzt zurück. Er hatte sich mit den französischen Nonnen und Wärtern überworfen. Auch Elisabeth Rellstab wollte das Spital verlassen. Wir lesen im Tagebuch: «Ich teilte Dr. Hallmayer mit, wie unartig die Leute gegen mich seien. Er fand dies im höchsten Grade unangenehm. Doch meinte er, ich sollte noch eine Zeitlang hier bleiben.»
Und Elisabeth blieb. Sie freundete sich mit einer Nonne an, und auch der neue Lagerarzt, Dr. Schmid, war gut zu ihr. Aber nach und nach erschöpften sich Elisabeth Rellstabs Kräfte. Unterm 17. Oktober lesen wir im Tagebuch: «Ich weiß nicht was machen. Heim muss ich, und ist es je bälder, je besser. Ich habe auf allen Seiten Gefahren, hier die Pocken, dort die Lazarettkrankheiten, und dazu die immer zunehmende Feindseligkeit der Franzosen gegen mich. Gestern und heute war es mir recht unwohl, jeden Abend habe ich Fieber und Kopfweh, dem ich sonst nie unterworfen war.»
Am 27. Oktober besuchte Elisabeth Rellstab das Lazarett von Château Thierry zum letzten Mal. Es kam zu ergreifenden Abschiedsszenen. Nur ungern liess man die Schweizerin, die man während sechs Wochen lieb gewonnen hatte, in ihre Heimat ziehen.
Ein Verwundeten-Zug brachte Elisabeth am 28. Oktober über Nancy und Strassburg nach Basel, und am Abend des 1. November 1870 langte sie glücklich in Wädenswil an. Nachdenklich und traurig schloss sie ihr viertes Tagebuch mit dem Eintrag: «Ich fühlte, dass nun wohl die interessanteste Zeit meines Lebens vorbei war, und so schnell war sie verflossen: Es war mir, ich sei kaum 10 Tage dort gewesen; und doch waren es ebenso viele Wochen.»
Nach ihrem segensreichen Wirken in Frankreich war Elisabeth Rellstab fest entschlossen, auch für die Kranken ihrer Heimatgemeinde zu sorgen. So gründete sie einige Jahre nach dem Deutsch-Französischen Krieg mit einigen Freundinnen in Wädenswil eine Krankenanstalt. In zwei Zimmern des Armenhauses wurde eine bescheidene Zahl von Betten aufgeschlagen. Fräulein Rellstab stand dem kleinen Betrieb als Leiterin vor und besorgte mit ihren treuen Kameradinnen die Kranken. Beim kleinen Anfang blieb man aber nicht stehen. Angesehene Männer und Frauen trugen Elisabeths Wunsch weiter und nahmen sich mit Einsicht und Tatkraft ihrer Sache an. Reichlich flossen freiwillige Beiträge. So konnte Ende 1886 an der Schönenbergstrasse das «Krankenasyl» gebaut werden, dem Elisabeth Rellstab bis zu ihrem Tode am 6. Mai 1904 die volle Kraft und Aufmerksamkeit schenkte.
 




Peter Ziegler