Wädenswiler Fasnacht in früherer Zeit

Peter Ziegler, 1984

Im vorreformatorischen Zürich und Wädenswil hatte die Fasnacht grosse Bedeutung. Sie gehörte zu den wenigen von der Kirche geduldeten Bräuchen, bei denen es ausgelassen zu und hergehen durfte: beim Maskentreiben, Tanzen, Essen und Trinken. Der Volkskundler Richard Weiss bezeichnete die Fasnacht als Ventilbrauch. Zwischen Dreikönigstag und Aschermittwoch konnte man ausgelassen leben, das «Kalb ablassen». Dann folgte die vierzigtägige Fastenzeit vor Ostern.
In der Fasnachtszeit kam es – dank übermütiger Stimmung – nebst Schabernack auch immer wieder zu kleinen Revolte und kriegsähnlichen Raubzügen, die vor allem von Burschen ausgetragen wurden. Es ist daher wohl kein Zufall, dass 1523 erregte Wädenswiler Herrschaftsleute in der Nacht vom 10. zum 11. Januar – also just in der Fasnachtszeit – mehrmals mit Trommeln, Pfeifen und grossem Lärm vor die Johanniterburg Wädenswil zogen, um ihrem lange verhüllten Unwillen gegenüber dem Orden und seinem Regiment deutlichen Ausdruck zu verleihen.
Mit der Reformation wurde in Zürich zu Stadt und Land das Fasnachtstreiben eingeschränkt. Die Mandate verboten das Butzen- und Bööggenwerch, das Chüechlireichen und die üppigen, «hüerisehen» Tänze.
Die Fasnacht blieb aber auch in der Landvogtei Wädenswil ein Zinstermin. Zu dieser Zeit mussten die Fasnachthühner abgeliefert werden. An der Fasnacht trat bis 1770 jeweils auch der vom Zürcher Rat alle sechs Jahre nach Wädenswil gewählte Landvogt sein Amt an. Behörden und Einwohner feierten dies mit Speise und Trank auf Kosten der Obrigkeit. Am Montag «nach der alten Fasnacht» zog dann die Jungmannschaft ins Schloss hinauf, wo ihr nebst Brot und Wein auch Pulver verabreicht wurde.
Trotz Mandaten – obrigkeitlichen Vorschriften – liessen sich weder Fasnachtsfeuer noch Fasnachts-Chüechli, weder das Lärmen mit Schellen, Hörnern und Peitschen noch das Tanzen und Maskentreiben ganz ausrotten. Gerade die grotesken, komischen, erschreckenden oder belustigenden Masken machten immer wieder vom Rügerecht und der Narrenfreiheit Gebrauch. Anreiz bot sodann das Vermummen und Verkleiden. Einmal im Jahr konnten so Standesunterschiede aufgehoben werden, konnten Männer – und sei es nur als Hexe – Frauenrollen übernehmen oder Frauen sich in Männerhosen stürzen.
Im 19. Jahrhundert, als die Mandate keine Gültigkeit mehr hatten, entwickelten sich in Wädenswil wie andernorts neue Formen der Fasnacht. Die Zeit der historischen Schauspiele begann. Wie in einigen Seegemeinden gehörte es seit den 1840er Jahren auch in Wädenswil zur Tradition, dass am Fasnachtssonntag ein Stück aus der Schweizergeschichte aufgeführt wurde. 1842 trug es zum Beispiel den Titel «Bruchstück aus der Schlacht am Stoss» oder «Wie die Schweizer im 15. Jahrhundert Krieg führten». Das Schauspiel, an dem rund 300 Wädenswiler mitwirkten, begann morgens sieben Uhr und erstreckte sich bis in den späten Nachmittag hinein. Schauplätze waren die Sust, der Freihof und die Zehntentrotte beim Grünenhof. Befriedigt stellte der Berichterstatter im «Allgemeinen Anzeiger vom Zürichsee» fest: «Es muss für jeden Volksfreund erfreulich sein, wenn sich das Gefühl Bahn bricht, man müsse auch die Fasnachtszeit zu etwas mehr als bacchanalischer Bööggerei – zu einem echten Volksfest – gestalten.» Skeptischer äusserte sich der Chronist der Lesegesellschaft über diese Aufführung: «Man konnte darin nicht viel Ähnliches finden als das Erscheinen von Truppen aus verschiedenen Kantonen, in damaligen Schweizertrachten, mit Hellebarden und Morgensternen. Man konnte dem Ganzen ansehen, dass die Zeit zu einem gehörigen Plan und zur Ausführung zu kurz war.»
An der Fasnacht 1843 spielten Bürger aus allen Ständen zwei Szenen aus dem Leben Napoleons: den Abschied von Fontainebleau und die Rückkehr von der Insel Elba nach Frankreich. Johann Jakob Blattmann in der Eichmühle beherrschte die Rolle Napoleons so gut, «dass man den leibhaftigen Napoleon zu sehen glaubte». Dies bewirkten seine ähnliche Figur und Kleidung und sein wohl dressierter Schimmel, den er gewandt zu reiten verstand.
Am Fasnachtsmontag des Jahres 1846 warteten die Wädenswiler mit einer Satire über «Sozialismus und Communismus» auf. Sie griffen damit ein Thema auf, das zu jener Zeit «von einigen verdrehten Köpfen» stark zur Sprache gebracht wurde. Aus verschiedenen Nachbargemeinden strömten die Zuschauer nach Wädenswil, um zu sehen, «wie der Communismus und der Sozialismus isst und trinkt, wie er lebt und stirbt». Wir wissen, dass viele Witze das Publikum «wirklich höchlich ergötzten».
Die im Februar 1874 gegründete «X-Gesellschaft Wädenswil», welche bis 1949 bestand, machte es sich zur Aufgabe, «dem wüsten Fasnachts- und Bööggenleben Einhalt zu tun». Man organisierte daher jedes Jahr einen Fasnachtsumzug. «Circus Renz» war bereits ein glänzender Erfolg beschieden. Zu Hunderten drängten sich die Leute in den Strassen, und wer bis jetzt noch gearbeitet hatte, liess seine Arbeit ruhn. So musste der Redaktor des «Allgemeinen Anzeigers vom Zürichsee» seinen Lesern mitteilen: «Wir müssen hier unsere Nummer schliessen, da sich das Arbeitspersonal ebenfalls unter den Zuschauern befindet».
Der Umzug von 1879 stand unter dem Motto «Kongress zu Berlin». Er war vom Zeichner des Nebelspalters, Herrn Boscoviz, geplant worden und stellte in 17 Bildern weltpolitische Ereignisse des Jahres 1878 dar. Nachdem man 1881 mit grossem Erfolg «Bilder aus der Geschichte der Gemeinde Wädenswil» gezeigt hatte, wagte man 1885 einen «Blick in die Zukunft». Hier sah man den Wirt, welcher seine «Überhöckler» fotografierte, um die Polizeikommission besser bedienen zu können; brillant wurde auch die Luftschifffahrt vorgeführt. Auf fliegendem Rad liessen sich künftig Liebesgrüsse persönlich überbringen.
Am 1. März 1896 führte die X-Gesellschaft im Engelsaal das grosse Festspiel «Zum Licht» auf. Sie ehrte damit die Ingenieure und Erbauer des Elektrizitätswerks an der Sihl, das Wädenswil seit kurzem mit Strom versorgte. Der Dichter J.C. Heer hatte den Text geschrieben, J.C. Willi die Musik komponiert. Das Elektrizitätswerk sorgte für glanzvolle Lichteffekte. Nach der dreistündigen Aufführung fand das Lichtballett, ein Maskenball, statt. Schauspiele und Umzüge waren nicht die einzigen Attraktionen an der Wädenswiler Fasnacht. Auch Maskenball und Tanzmusik gehörten zu diesem Fest. Schon viele Tage vor der Fasnacht erschienen im «Anzeiger Inserate, mit welchen Wirte und Private auf Maskengarderoben und Tanzgelegenheiten hinwiesen. Im Gasthof Engel konnte man 1843 bei Herrn Gülow, Garderobier am Aktientheater in Zürich, einen Maskenanzug mieten, wollte man am dortigen Maskenball in den beiden geräumigen Sälen teilnehmen. Wirt Hauser lud zu zahlreichem «Zuspruch» ein und garantierte für «Handhabung bester Ordnung». 1846 empfahl der Kürschner Johannes Hauser zum «Scharfegg» in Wädenswil seine grosse Auswahl an Maskenkleidern zu billigen Mietpreisen. Bei ihm stünden vier Zimmer zur Verfügung, machte Hauser in der Lokalpresse weiter bekannt, zwei zum Auswählen und zwei zum Ankleiden. Bekannt und beliebt waren um die Jahrhundertwende besonders die Maskenbälle im Restaurant Schiffli, mit Rummelbummel in sämtlichen Räumen.
Eine aussergewöhnliche Fasnachtsfreude erlebte die Wädenswiler Schuljugend im Jahre 1868. Bewohner hatten, in einer Notzeit, freiwillige Gaben gesammelt, um bedürftige Schulkinder am Fasnachtsmontag beschenken zu können. Man hatte es, laut «Anzeiger» vom 5. März 1868, zuerst nur auf eine «Chüechlete» abgesehen. «Dank den reichlichen Beiträgen wurde es aber möglich, noch ein mehreres zu tun. Auf erfolgte Einladung hin fanden sich am Montagnachmittag über zweihundert Schulkinder ein, bewaffnet mit Körben. Im Kleinkinder-Schulzimmer (im heutigen Alten Eidmattschulhaus) lagen nebeneinander gereiht 220 Brote, ebenso viele Würste, und dabei präsentierten sich auch acht Bandzainen voll der prächtigsten «Chüechli». Jedes Kind erhielt sein Brot, seine Wurst und eine Portion «Chüechli». Die Freude und der Jubel waren gross. Sowohl bei Zuschauern als Beschenkten sah man Freudentränen glänzen. Das ist eine würdige, edle Fasnachtsfeier, wertete der Zeitungsberichterstatter.
Die Haupttage für die Fasnacht waren in Wädenswil wie im Zürichbiet überhaupt die «Puurefasnacht», also der Sonntag nach der hier nicht gefeierten Herrenfasnacht, und der darauffolgende Montag, der Hirsmontag. Besondere Bedeutung hatte in Wädenswil, wie beispielsweise in andern Seegemeinden und im Zürcher Oberland, noch zu Beginn unseres Jahrhunderts der Dienstag vor dem Aschermittwoch. In den meisten Familien kamen an diesem Tag Schüblinge auf den Mittagstisch, weshalb man allgemein vom «Schüblig-Ziischtig» sprach. Auch der Name «Junge Fasnacht» war für diesen Tag gebräuchlich. An diesem schulfreien Dienstag sah man früher viel jugendliche «Kudi» und junges «Lumpepack», oft mit «Söiblaateren» bewaffnet.
Von Zeit zu Zeit erlebte Wädenswil auch eigentliche Fasnachts-Scherze. Dass am Fasnachtsdienstag 1846 das Bööggen nicht mehr erlaubt sein solle, wollte dem Dorforiginal «Baneeter-Buume» nicht einleuchten. Baumann richtete daher ein Gesuch an den Gemeinderat und bat inständig, man möge ihm doch das Bööggen auch am Dienstag gestatten. Der Gemeinderat schlug die Bitte ab. Da trug Baumann seinen Wunsch dem Gemeindepräsidenten persönlich vor: «Gestatten Sie mir wenigstens das «Bööggen» aus dem Fenster?» Der Präsident lächelte. Rechtlich konnte man niemandem verbieten, seine Larve aus dem Fenster zu strecken und dumm zu tun. «Wenn es sein muss, ich erlaube es!»
Am Fasnachtsdienstag gingen die Wädenswiler ihrer Arbeit nach. Was war das plötzlich für ein Schreien, Rufen, Lachen? Der Gemeindepräsident riss den Fensterflügel auf und schaute hinaus. «Zum Teufel noch einmal! Das Fasnachtsverbot wird nicht eingehalten. Mit verstellter Stimme macht einer Spässe!» – Es war Baneeter-Buume. Er trug ein grosses Vorfenster und hatte den Kopf durch einen Fensterflügel gesteckt. Keck schaute Baumann zum Präsidenten hinauf und rief vergnügt: «Nichtwahr, Sie haben es mir doch erlaubt, zum Fenster hinaus zu bööggen?»
Da im Februar 1856 in der Innerschweiz die Pockenkrankheit herrschte, verbot der Gemeinderat Horgen jegliches Maskentreiben in der Gemeinde. Die Wädenswiler hatten Erbarmen mit ihren Nachbarn. Sollten sie um die fröhliche Fasnacht kommen? Wie wäre es mit einem Besuch in Horgen? Also rüsteten ein paar Wädenswiler am Fasnachtsmontag einen Maskenzug und fuhren in einem von vier Schimmeln gezogenen Galawagen nach Horgen, um den Einzug in Frieden oder Ernst zu versuchen. Sechs stattliche Reiter gaben das Schutzgeleit. Die Gemeindebehörde von Horgen hatte durch den Telegrafen Meldung vom Anmarsch der Wädenswiler erhalten. Sie sandte daher einen Abgeordneten zu Pferd vor das Dorf hinaus, der den Wädenswilern an einer langen Stange das verhängnisvolle Verbot entgegenhalten musste. Dann erschien sogar ein Arzt, der die aus kranker Gegend gekommenen Gäste mit einem Perspektivrohr untersuchte. Diese Untersuchung dauerte den Eindringlingen allerdings zu lange. Sie sprengten unbehindert dorfwärts. Aber oh weh! Da starrte ihnen eine gewaltige Barrikade entgegen, und dahinter feuerte das tapfere Kadettenkorps eine donnernde Salve ab'. Die ersten Reiter setzten mutig über die Planken weg und ebneten den Hoheiten in der Karosse die Einfahrt nach Horgen, wo das Ereignis im Meierhof «durch zahllose entsiegelte Flaschen besiegelt wurde».




Peter Ziegler