Das Waisenhaus in den Kriegsjahren 1939 bis 1945

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2007 von Annemarie Zogg-Landolf

Das zur Zeit des Sonderbundskrieges erbaute Haus am Wädenswiler Berg hat seinen Namen bis heute behalten. Waisenhaus steht noch heute in goldenen Buchstaben auf seiner dem See zugewandten Front, obwohl es in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts aufgehoben wurde. Kinderheim wäre wohl der Bezeichnung gerechter geworden, denn die Kinder kamen meist aus unvollständigen Familien oder solchen, denen die Mittel für eine geordnete Haushaltführung fehlten. Hätte es dannzumal schon die AHV gegeben, wäre manche Mutter imstande gewesen, die Kinder allein zu erziehen. Die damalige Armenpflege, Vorläuferin des heutigen Fürsorgeamtes, unterstützte in Not geratene Familien nicht individuell. So kamen die Kinder einfach ins Waisenhaus, die Väter oder Mütter oder beide Elternteile, falls sie völlig veramt oder überschuldet waren, ins Armenhaus, das in Wädenswil schon in menschfreundlicherer Bezeichnung Bürgerheim hiess. Leider haftete den Kindern die Bezeichnung ihrer neuen Heimat solange sie dort lebten an. Sie wurden im Dorf – aus heutiger Sicht wenig rücksichtsvoll – einfach die «Waisenhäusler» genannt. Das galt auch für mich, die Verfasserin des folgenden Berichtes. Ich war das zweitälteste der fünf eigenen Kinder der Waiseneltern Fritz und Frieda Landolf-Müller, die, vom Thurgau herkommend, 1919 die Heimleitung übernommen hatten. Drei meiner Geschwister wurden in Wädenswil geboren.
Waisenhaus Wädenswil, Ansicht von Südwesten, um 1920.

Bei der Übernahme gab es einige Änderungen. Einmal wurde der zum Haus gehörende Landwirtschaftsbetrieb mit seinen über 20 Kühen, den der frühere Hausvater zusätzlich mit den Buben bewirtschaftet hatte, vom Heim abgetrennt, damit den Hauseltern mehr Zeit blieb für die Kinderbetreuung. Das damals noch wie üblich abseits vom Hause stehende «stille Örtchen» wurde ins Hauptgebäude integriert, was dann dazu führte, dass Küche und WC-Anlagen der Sonnenseite, die Schlafsäle und Stuben dem See und damit der Schattenseite zugewandt waren.
Die bisher verwendeten Blechnäpfe und -becher wichen solidem Porzellangeschirr, die Hausarbeit wurde neu geregelt. Die Knaben wurden als Helfer der Landwirtschaft und dem Garten zugeteilt, und sie waren darüber sicher nicht unglücklich, denn nun nahm das Haus auch Mädchen auf, welche die Buben endlich von der bisherigen Strickarbeit erlösten. Von diesen offenbar mit diktiertem Fleiss ausgeübten Strickübungen zeugten die Bettüberwürfe in den Schlafsälen. Da lagen wahre Kunststrickwunder über den Betten, die in ihrem schneeigen Weiss die Besucher denn auch von den Bemühungen überzeugten, dass die Kinder hier zu nützlicher Arbeit angeleitet wurden. – Die wichtigste Neuerung aber galt den Kindern selber. Sie durften von nun an in der Kinderlehre und im Gottesdienst unter den Dorfbewohnern sitzen statt in den sie kennzeichnenden Waisenhäuslerbänken.
Zweitägige Reise der Schulentlassenen, die bis zur Konfirmation in ihrem bisherigen Zuhause bleiben. Aufnahme von 1939. Stehend der Waisenvater, sitzend neben ihm die Hausmutter und die Köchin. Links aussen, mit Hut, Kommissionsmitglied Anna Felix.

DAS HAUS, EIN KLEINER STAAT IM STAATE

Unser Haus war in seiner Abgeschiedenheit und der von der Aufsichtsbehörde verordneten, grösstmöglichen Selbstversorgung ein kleiner Staat im Staate, umgeben zwar von nachbarlichen Bauernhöfen auf der Untern, Hintern und Obern Felsen, den Zollingerhäusern, der Senn- und der Eichweid, dem Eichhof und dem Hänsital, mit deren Kindern wir zur Schule gingen und Freundschaften schlossen. Die gleiche nachbarliche Verbundenheit, vor allem zur gegenseitigen Hilfe, bestand auch unter den Erwachsenen. Ihr Alltag unterschied sich nicht von unserem. Kartoffeln, Gemüse, Obst und Früchte bezog man aus der Landwirtschaft, der Stall lieferte Milch und Butter, und im Hause selber sorgten die Frauen fürs Essen mit einer Küche, die sich durchs ganze Jahr mit Eigengewächsen versorgte. Kleider und sonstige Textilien nähte man nach Möglichkeit selber, strickte Strümpfe, Socken, Pullover, Mützen, Handschuhe und flickte Beschädigtes wie in der Arbeitsschule gelernt, fachmännisch und gründlich bis zum letzten Faden. Der einzige Unterschied bestand darin, dass wir unsere Einkäufe en gros erledigten, für die dann unser Meisterknecht die Ochsen einspannte und mit ihnen die Fracht im Dorfe abholte. Kleine Zutaten wie etwa zum Backen, Kerzen, Zündhölzer konnte man im «Lädeli» von Frau Huber in der Hintern Felsen oder im Konsum auf Rutenen holen. Unsere bis dahin eher beschauliche Einheit am Berg nahm ein jähes Ende, als 1939 der Krieg ausbrach.

WIE DER KRIEG UNSEREN ALLTAG VERÄNDERTE

Der nachfolgende Bericht möchte keineswegs den grossen, während sechs Jahren um unser Land tobenden Krieg beschreiben. Er möchte einfach zeigen, wie sich der Alltag mit allen Sorgen, Lasten und Entbehrungen, die sich in der Folge ergaben, hinter der Front abspielte. Wie sich unser Land trotz Abriegelung und gänzlich fehlender Importe behauptete, sich seine Selbstversorgung auf- und ausbaute und sich in selbstbestimmter Einigkeit trotz vieler Verzichte hilfsbereit zeigte. Wer diese Zeit miterlebte, möchte diese Einigkeit und Solidarität gerne wieder zurückhaben.
 
Es ist Krieg
Kriegsgerüchte lagen schon lange in der Luft. Erste Anzeichen wurden für uns spür- und erlebbar, als mit einem Male Kameraden nicht zur Arbeit erschienen und beim Nachfragen bekannt wurde, dass sie zum Kriegsdienst in ihre Heimat abberufen worden waren. Es ging dabei stets um Bürger aus Deutschland, mit denen man zur Schule gegangen, vielfach im gleichen Verein mitgewirkt und einen Teil der Freizeit zusammen verbracht hatte ohne zu wissen, dass sie gar keine Schweizer waren. Bei schon Verheirateten war auch die Frau, obwohl vorher Schweizerin, mitbetroffen. Wollte sie ihrem Manne nicht nach Deutschland folgen, schickte man sie vorerst ins Interniertenlager, denn zu einem doppelten Pass kam es erst durch die Erfahrungen des Krieges.
Zu Wutausbrüchen und Schimpftiraden auf offener Strasse aber gaben die eigenen Landsleute Anlass: Um sich und ihre Familien bei einem eventuellen Einmarsch der Deutschen in Sicherheit zu bringen, strebten sie in ihren mit Hausrat vollgestopften Autos in langer Schlange der Innerschweiz zu. Trotz aller Wut und Entrüstung kam einen oft das Lachen an beim Anblick dieser durch Überladung wackelnden Fahrzeuge, mit ihrem obenauf gebundenen Kanarienvogelkäfig.
Als aber Tage später, am 1. September 1939, die Sturmglocken aller Kirchen das Dorf aufschreckten, sie auch vom andern Ufer zu hören waren, am Berg der Gemeindeweibel Ernst Gattiker hornblasend im Auto von Hof zu Hof raste mit der Botschaft, dass der Krieg ausgebrochen, ein General gewählt sei und alle Wehrpflichtigen unverzüglich einzurücken hätten, war die Verwirrung total. Im Waisenhaus galt das Aufgebot dem Meisterknecht, der sich in Begleitung einiger Hausbewohner unverzüglich auf den Weg zum Schiff machte, denn er wohnte in Männedorf, wo seine Frau ein Rebgut bewirtschaftete, das ihm nicht genügend Arbeit bot. Als echter Appenzeller fand er in der Stallpflege des Waisenhauses eine ihm zusagende Alternative. Dank seiner Kompetenz lag der Landwirtschaftsbetrieb in guten Händen, was den Waisenvater der grössten Sorge enthob.
 
Chaos allüberall
Von einer Verabschiedung am Schiffsteg aber wurde nichts, denn schon das Umgelände des Bahnhofs überquoll von einer aufgeregten Menschenmenge aus bereits zum Einrücken gerüsteten Soldaten, begleitet von ihren Angehörigen. Frauen, die nur mit grösster Mühe ihre Tränen zurückhielten. In Angst weinende Kinder, die ihren Vater noch nie in Uniform, auch noch nie mit dermassen bekümmertem Gesicht gesehen hatten und bei der selber mit der Angst kämpfenden Mutter keinen Trost fanden. Die bange Frage: «Werden wir uns wohl wiedersehen?» stand allen ins Gesicht geschrieben, umklammerte sie wie mit eisernem Griff, dem sie sich nicht entziehen konnten, sie lähmte.
Dazu das Chaos bei jedem einfahrenden Zug. Die Bahn, damals nur im Stundentakt verkehrend, war dieser unerwarteten Beanspruchung gar nicht gewachsen. Kaum hatten die Kondukteure die Strecke ausgerufen, drängten sich die Soldaten um die dazumal schmalen und nur durch Treppenstufen erreichbaren Eingänge. In der Hast blieben sie dann mit ihrem Tornister an der Treppenstange hängen und versperrten den Nachkommenden für eine Weile den Weg. Der Anblick der steckengebliebenen Tornister, der in der Enge des entstandenen Gedränges in die Luft gestreckten Gewehre bot den Zurückbleibenden ein Bild der Verzweiflung. Bis tief in die Nacht rollten die Züge, lichteten sich allüberall die Bahnhöfe, bis die 430000 zur Generalmobilmachung aufgebotenen Soldaten ihren Einrückungsort erreicht hatten.
 
Der Morgen danach
Am andern Morgen machte ich mich zeitig auf ins Dorf, denn der Kassier der Sparkasse, meinem Arbeitsplatz, war ja ebenfalls eingerückt, und ich hatte ihn zu ersetzen. Auffallend die Geschäftigkeit im Dorf. Frauen mit Einkaufstaschen an jedem Arm hasteten grusslos an mir vorbei. Vor der Sparkasse erwartete mich eine Menschenschlange, deren Schwanz sich bis auf den Postplatz hinzog. Da war kein Durchkommen, bis ein Securitaswächter erschien, die Wartenden in Zweierreihe anstehen hiess und immer nur für zwei den Schalterraum öffnete. Aber bereits für diese zwei hatten wir beiden Frauen, die nun zurückblieben, genug zu tun. Schon die aufgeregten, um ihr Geld bangenden Kunden zu beschwichtigen, die meist mit den Sparbüchern der ganzen Familie aufrückten, kostete Geduld. Zur ruhigen, aber bestimmten Erklärung des alles überwachenden Chefs: «Pro Sparheft und Familie könnten vorerst nur 240 Franken ausbezahlt werden», gab es lange und enttäuschte Gesichter, oft auch laute Proteste. Aber im Grossen und Ganzen fügte sich die Kundschaft. Jedes spätere Mal, wenn die Kriegsberichte bedrohlich lauteten, wiederholten sich diese Bankenstürme. Post und Grossbanken mussten deshalb immer grössere Geldmengen bereithalten.
 
Hamsterwelle
Im Dorf wiederholte sich dasselbe. Die Lebensmittelläden, die Bäcker und Metzger wussten sich des Ansturms ebenfalls kaum zu erwehren. Wer Geld hatte, kaufte wahllos ein, auch wenn er es kaum noch heimschleppen konnte. Ja, oft drängten sich unvernünftige Kunden aus Angst, zu kurz zu kommen, hinter den Ladentisch, um sich selber einzudecken. Das Chaos war perfekt, die Geschäfte ausgeplündert, und wer kein Geld gehabt hatte, ging leer aus.
Schon am Nachmittag blieben die Läden geschlossen. Nur für ein paar Tage, hiess es, bis die Lebensmittel- oder Rationierungskarten bereit seien, damit die Vorräte gerecht und an alle, auch an diejenigen mit wenig Geld, verteilt werden könnten. Von jetzt an war das Land, da ja die Importe fehlten, auf sich selber angewiesen.
 
Verdunkelung
Wie die Soldaten an der Grenze, hatte sich auch das Hinterland den Gegebenheiten des Krieges anzupassen. Die Befehle folgten am laufenden Band. Als Erstes, die Häuser zu verdunkeln, um Flugzeugen keine Orientierung zu bieten. Wie viele Fenster gab es da im Hause zu verdunkeln, wie viele Rouleaus einzupassen, damit die schwarzen Papierbahnen abends einfach heruntergerollt werden konnten! Stoff in diesen Mengen war gar nicht erhältlich, und er wäre auch, wie in den meisten Häusern, zu teuer gewesen. Dazu durfte kein Spältchen Licht hervorgucken, denn bei gelegentlichen behördlichen Kontrollen folgten Mahnungen oder gar Bussen auf dem Fusse. Sogar die Velolampen mussten abgedunkelt werden.
 
Entrümpelung von Estrichen und Kellern
Um dem Feuer bei einem eventuellen Bombenanschlag wenig Nahrung zu bieten, kam Befehl, die Estriche zu räumen und dafür eine Kiste Sand mit einem flachen, lappenumwickelten Besen als erstem Flammenlöscher hinzustellen. In so genannten Luftschutzkursen lernten die zurückbleibenden Frauen und Männer, sofern sie nicht für besondere Dienste beansprucht waren, bei einem Brand durch Bombeneinschlag selber erste Hilfe zu leisten. Diese Kurse waren äusserst unbeliebt, denn das Feuerlöschen musste einmal während der Kurszeit am brennenden Objekt erprobt werden. Dabei kam es zu vielen Unfällen. Gegen Ende des Krieges wurden die Kurse sogar abgeschafft.
Was da in den Estrichen alles dahinschlummerte, längst vergessen war oder ganz neu zum Vorschein kam, das ging, wie das Sprichwort so treffend sagt «auf keine Kuhhaut». Manch heimliche Träne floss auf einst lieb gewordene Erinnerungsstücke, dazu auch auf solche, die heute einem Museum wohl anstünden und unsern Nachfahren vieles erklärt hätten, was sie an unserm Tun nicht verstanden.
Im Keller konnten diese Überbleibsel auch nicht verstaut werden, denn dieser diente zum einen der Vorratshaltung, die das Überleben sicherte, zum andern brauchte jedes Haus einen sichern Raum im Keller, in den es sich bei einem Luftangriff retten konnte. Der Raum wurde, wenn nötig, mit Balken abgestützt und für einen längern Aufenthalt zurechtgemacht. Gut, dass er nie gebraucht wurde, denn für längere Aufenthalte, wie sie die Kriegsländer erlebten, hätte trotz Vorsorge vieles gefehlt.
Dasselbe Schicksal wie den Luftschutzkursen war auch den Ortswehren beschieden. Die Idee, die dahinter stand, ausgediente Soldaten wie das Militär zum Schutze des Dorfes einzusetzen, war sicher gut gemeint. Als aber die Männer ausgerüstet mit alten Uniformstücken aus den Armeebeständen zum ersten Exerzieren einrücken mussten, gab es laute Proteste. Ein Dienst ohne Waffe kam gar nicht in Frage. So etwas liessen sich die einstigen Soldaten, die alle den Ersten Weltkrieg mitgemacht hatten, nicht gefallen. Auch schämten sie sich richtig, sich in den alten Uniformen im Dorf zu zeigen. Da gab es ganz bissige Kommentare, ja, vom «Gfätterle» war sogar die Rede.
Der Ortsplan am Haus der Bäckerei Ammann musste 1940 auf militärische Weisung hin übertüncht werden.

Im Niemandsland
Nichts sollte einem einfallenden Feind – gemeint waren ja die Deutschen – Hilfe bieten. Deshalb verschwanden im öffentlichen Raum sämtliche örtlichen Orientierungstafeln. Vorerst die Stationsnamen entlang der Bahnlinien, an Gebäuden, Fabriken, Wegweisern. Unbekannten sollte man auch jegliche Auskunft verweigern. «Wer nicht schweigen kann, schadet der Heimat!» mahnte es auf Schrifttafeln und Plakaten. Als sich die Situation beim Blitzüberfall auf Holland und Belgien zuspitzte, erwog die Militärspitze gar, die Bevölkerung besonders gefährdeter Gebiete des Mittellandes in die Innerschweiz zu evakuieren. Dazu gehörte auch das Waisenhaus. Da aber stemmte sich der Waisenvater, der schon den Krieg 1914/18 als Soldat mitgemacht hatte, dem Kriegsbefehl entgegen. Nach zähen Verhandlungen wurde seiner Begründung stattgegeben, er ziehe doch nicht mit 30 Kindern ins Ungewisse, wo es dann an der notwendigsten Infrastruktur fehle. Dafür aber wurde er verpflichtet, im Notfall sein Haus dem Militär zur Verfügung zu stellen, die Scheune für die Unterbringung der Pferde – der so genannten «Eidgenossen» – bereit zu halten. Das Kriegskommissariat wollte auch wissen, wie viele Personen wir notfalls verköstigen könnten, was hiess, den Inhalt unserer schweren Kupferkasserollen und -pfannen auszurechnen. Ein Glück, dass der Waisenvater als einstiger Lehrer in Geometrie bewandert war. Damals kochten wir noch mit Holz und Kohle, und die Handhabung dieser unhandlichen Kochgeschirre kostete Kraft.
Dass nun alle Bewohner stets eine Erkennungsmarke auf sich tragen mussten, bereitete unserm Haus einiges Kopfzerbrechen. Wir nähten den Mädchen ein solides Täschchen in ihren Unterrock, den Knaben ein gleiches in den Hosenbund.
 
Kriegsangst als ständige Begleiterin
Wenn auch mit Einschränkungen, lebten wir zufrieden, ohne darüber zu klagen. Aber die Angst, wie es uns ergehen könnte, falls ... war unsere ständige Begleiterin. In einer nie gekannten Art meldete sie sich bei jedem Fliegeralarm, bei jeder der aufwühlenden Kriegsmeldungen in den Zeitungen, obwohl sie zensuriert waren, man also gar nicht alles erfuhr. Sie stieg mit einem Kribbeln im Magen hoch, erfasste den ganzen Menschen, war nicht wegzubringen und hielt sich hartnäckig, noch Jahre nach dem Krieg, sobald von diesem die Rede war. Neuen Auftrieb gaben ihr zusätzlich die wild zirkulierenden Gerüchte. Vereinzelt, aber noch immer wie zu Kriegsbeginn, erschienen verängstigte Kunden auf der Sparkasse mit bisher gut versteckten Sparheften ihrer nun an der deutschen Front kämpfenden oder bereits gefallenen Angehörigen, mit der inständigen Bitte, alle Unterlagen mit den persönlichen Daten zu vernichten im Falle, dass es der siegreichen deutschen Kriegführung doch noch einfallen würde, unser Land zu vereinnahmen. Unerklärlich, ja geradezu unheimlich das Wissen, dass unter unserer Bevölkerung noch immer Sympathisanten für einen Anschluss ans Deutsche Reich lebten.
 
Der General greift ein
Zu einem klaren, festumrissenen Standpunkt verhalf uns Zivilisten und wenig Militär-Vertrauten der in allen Landesteilen beliebte, geschätzte und geachtete General Henri Guisan. Im Juli 1940, einer sich zuspitzenden, unruhigen, unsichern Zeit, berief er die Armeespitze zu einem Rapport auf die Rütliwiese, der Wiege unserer Eidgenossenschaft. Hier klärte er sie über seine Kriegsstrategie auf, mit der Gotthardfestung als Réduit, und erinnerte sie gleichzeitig an ihre Vaterlands-Pflicht und Vaterlands-Treue. Als Rütlirapport ging das psychologisch geschickt gewählte Treffen für Armee und Zivilbevölkerung in unsere Geschichte ein. Uns gab es unseren verlorenen Mut und unser Selbstvertrauen wieder zurück, und das war sehr nötig, um die kommende Zeit mit der Rationierung der Lebensmittel und den Anstrengungen zur Selbstversorgung mit den eigenen Gütern zu bewältigen. Das Vertrauen in unsern General, unsere Armee und in uns selber verliehen uns die notwendige Kraft.

DAS ERSTE VOLLE KRIEGSJAHR

Das erste Kriegsjahr stellte uns oft vor neue Aufgaben und Herausforderungen, brachte uns aber auch Gutes, und dies betraf vor allem die Lohnersatzordnung, was die Hauseltern mit grosser Freude und Genugtuung zur Kenntnis nahmen. Sie hatten im letzten Krieg erfahren müssen, was es für einen Familienvater heisst, an der Grenze zu stehen und die Familie ohne Lohn zurückzulassen. Selber konnte ein einfacher Soldat mit 80 Rappen Sold im Tag seiner Familie nicht helfen, und wenn die Frau nicht seinen Platz einnehmen oder sonst eine Arbeit finden konnte, war die Familie auf die öffentliche Fürsorge und damit auch auf die Suppenküche angewiesen, die jede Gemeinde sofort einrichtete. Mit dem nun gesetzlich vorgeschriebenen Ersatz konnten sich die Familien mit dem Nötigsten versorgen.
Unser Haus als Arbeitgeber für den Meisterknecht und dessen Ersatz, falls wir einen fanden, für deren Lohn Gemeinde und Kanton aufkamen, musste bei jedem Militäreinsatz einen Antrag stellen, der von beiden zahlenden Stellen peinlichst genau unter die Lupe genommen wurde. Ihre Nachfrage bei der Prüfung des Antrages über den Ersatz brachten mich meist an den Rand der Verzweiflung, denn da musste vorerst nachgeforscht werden, ob der Antragsteller vielleicht noch andere Einkünfte hatte und woher, oder ob er eventuell Fürsorgegeld bezog. Am meisten zu brüten wegen des Lohnersatzes gab es über unsern langjährigen Heuer, einen Bauern aus der Innerschweiz, der viel später als wir heuen konnte und bei uns einen Zusatzverdienst suchte. Lange mussten wir jeweils warten und die Kontrollstelle immer wieder beschwichtigen, bis das Finanzamt seines Heimatkantons uns mitteilte, wie der Monatslohn eines selbständigen Bauern einzustufen war. Eine mühsame Angelegenheit, die viel Zeit kostete, wie auch der von Monat zu Monat neu zu stellende Antrag für die Rationierungskarten mit ihren wechselnden Zuteilungen. Von einem geruhsamen Feierabend konnten wir nur träumen, denn auch am Arbeitsplatz auf der Sparkasse gab es, weil der Kassier im Dienst weilte, viele Überstunden.

ORTSWEHR

Angst und Unsicherheit verstärkten sich, als General Guisan im Mai 1940 zur zweiten Mobilmachung aufrief, denn mit der neu gebildeten Achse Rom–Berlin geriet unser dazwischen eingeklemmtes Land in eine bedrohliche Lage. Diesmal ging es dem General um den Schutz vor Überfall innerorts, der sich gemäss seiner Weisung auf die Gemeinden und ihre Quartiere erstrecken sollte. Der Bundesrat rief die Gemeinden zur Bildung von Ortswehren auf, was bei den Bauern auf dem Wädenswiler Berg zu heftigen Diskussionen führte, denn, so befürchteten sie, man nahm ihnen die letzten noch verbliebenen Arbeitskräfte für den bevorstehenden Heuet weg. Mit allen Ausreden und die geplante Organisation kritisierend, versuchten sie, sich von diesem Dienst, diesem «Gfätterlizüüg», zu befreien. Wir Frauen hatten da nicht viel zu sagen. Das war eine militärische Angelegenheit, der wir – unserer Arbeit wegen – auch nicht die notwendige Beachtung schenkten und annahmen, es sei alles in Ordnung.
Unterdessen aber hatte die Gemeinde gehandelt, eine Ortswehr gebildet und in Anschlägen und der Zeitung zu deren Vereidigung eingeladen. Es sollte ein würdiger, festlicher Anlass auf der Eidmatt-Wiese werden. Da unsere «Bergler-Bauern» samt dem Waisenhausvater über diese Ortswehr so laut gewettert und sich gegen das Mitmachen gewehrt hatten, beschlossen wir ahnungslosen Frauen, mit den Kindern den Anlass heimlich zu besuchen. Wie aber staunten wir, konnten unsern Augen nicht trauen, als wir unsere Revoluzzer in der langen Marschkolonne entdeckten. Sie aber gestanden uns nach dem feucht-fröhlichen Festausgang endlich, dass Leutnant Pfenninger als Ortskommandant jeden von ihnen nach ihrem lautstarken Protest persönlich im Stall aufgesucht, ihn gewarnt und ihm erklärt habe, dass sie unter Kriegsrecht stünden und bei Befehlsverweigerung unter Umständen statt das Heu zu ernten, «Ferien» in Steinhausen – hier befand sich das Militärgefängnis – machen müssten. Allerdings, das buchten sie als Triumph, habe Leutnant Pfenninger ihnen versprechen müssen, nichts, aber auch kein Wort nach aussen verlauten zu lassen, um sie nicht als Landesverräter zu stempeln, was sie beileibe nicht waren und weshalb sie auch nicht als solche angesehen werden wollten. Leutnant Pfenninger hatte also Wort gehalten! Als Jahre später die Wädenswiler-Chronik vom kräftigen Widerhall in der Bevölkerung für eine Ortswehr berichtete, hatten wir, als Miterlebende, unsere heimliche Freude. Dass es die Sonne nun doch noch an den Tag bringt, nur deshalb, weil es auch zu den Kriegserlebnissen gehört, würden die Revoluzzer und Leutnant Pfenninger heute verzeihen. Sie weilen jedoch nicht mehr unter uns. Leutnant Pfenninger aber, der die Ehre unserer Bergler-Bauern gerettet hat, gebührt für seine Bemühungen nachträglich nochmals grosser Dank.
Vereidigung der Ortswehr in der Wiese oberhalb des Neuen Eidmattschulhauses, 30. Juni 1940.

DER DANK DER FRAUEN

Die zweite Mobilmachung nagelte die Soldaten erneut an der Grenze fest. Urlaube wurden sehr spärlich gewährt. Dafür reisten die Wäschesäcke fleissig ins «Feld» und mit ihnen die mitgeschickten Nachrichten. Ein Telefon, heute eine Selbstverständlichkeit, besassen zu dieser Zeit nur wenige Familien. Die Sehnsucht nach häuslicher Geborgenheit aber, die aus den Feldpostbriefen an die eigene Familie herauszuspüren war, war für die Frauen schwer zu ertragen, machte ihnen gleichzeitig in erschreckender Weise bewusst, wie viele alleinstehende Soldaten die persönlichen Kontakte ihrer verheirateten Kameraden vermissen mussten und dass sie hier eine Lücke auszufüllen hatten. Bald hörte man da und dort von privaten «Waschküchen» für alleinstehende Soldaten, was schnell die Runde machte. So fand bald ein jeder einen Ort, wo er sein Wäschesäcklein hinschicken und es mit frischer Wäsche und Nachrichten aus dem Dorf wieder empfangen durfte. Natürlich wäre ihm auch der Wäschedienst des Militärs zur Verfügung gestanden, doch nahm er gerne den persönlichen in Anspruch. Wir selber hatten mit den frisch aus der Lehre entlassenen, nun Militärdienst leistenden Ehemaligen und einem meiner Brüder vier Wäschesäcklein zu besorgen und konnten da nicht mitmachen. Wir schlossen uns aber, da uns von unserm Dorf bisher noch nichts bekannt war und wir unsern Teil auch beitragen wollten, einer Wäschegruppe in Thalwil an, die von Verwandten einer unserer Angestellten betreut wurde. Dies einfach mit gelegentlicher Aushilfe aus unsern mit gedörrtem Obst reichlich gefüllten Stücklitrögen. Oft konnten wir auch für ihren Backtag mit ein paar der so rar gewordenen Eier aus unserem grossen Hühnerhof aushelfen. Die Freude der Frauen war jeweils gross über die ihnen meist von unerwarteter Seite geschenkten Zutaten. Es erfüllte sie mit Stolz, dass sie jeder Wäschesendung trotz fehlender Schokolade, etwas «Besonderes» mitgeben konnten. Die während diesen Jahren geknüpften Kontakte hielten meist später noch an oder führten oftmals zur Zweisamkeit. Klassenweise schrieben die Schulkinder Briefe an die Front, und sie warteten gespannt auf eine Antwort. Gesang- und Theatervereine verlegten ihre Veranstaltungen an die Grenze. In den Arbeitsschulen und privat wurden um die Wette Socken, Mützen und Handschuhe gestrickt und Wäsche genäht; es sollte niemand vergessen bleiben.
Nur, was sich ausserhalb unserer Grenzen abspielte, verhiess nichts Gutes, vergrösserte unsere Angst und Unsicherheit. Wir wussten, dass unser von Kriegsmächten umklammertes Land ein Inseldasein führte, das beim geringsten Anlass ausgelöscht werden konnte. Das erklärt – zwar erst im Nachhinein – den spärlichen Informationsfluss aus dem Bundeshaus. Von hier flossen die Kriegsnachrichten nur karg, was wir sehr bedauerten. Immer wieder beschäftigte uns die Frage: Können wir so durchhalten? Die Stimmung der Bevölkerung war auf dem Nullpunkt angelangt, eine Mutlosigkeit hatte Fuss gefasst, aus der es keinen Ausweg zu geben schien.

WIR KÖNNEN DURCHHALTEN

«Wir können durchhalten, wir wollen durchhalten, wir müssen durchhalten», überschrieb Friedrich Traugott Wahlen, Chef der Sektion für landwirtschaftliche Produktion und Hauswirtschaft im Eidgenössischen Kriegsernährungsamt, im Herbst 1940 seinen öffentlichen Aufruf, mit dem er seinen Plan zur Selbstversorgung mit Eigenanbau landwirtschaftlicher Produkte begründete. Er schloss ihn mit der Ermutigung: «Auf denn ans Werk – mit Gottes Hilfe!»
Daraufhin wählte ihn der Bundesrat zum Beauftragten für das von ihm geplante Anbauwerk, das in seiner Bewährung als «Plan Wahlen» in die Geschichte eingehen sollte. Im Volk bisher wenig bekannt, durchwegs aber in bäuerlichen Kreisen als Redaktor der führenden landwirtschaftlichen Zeitung, der «Grünen», und engagiertes Mitglied der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei, der heutigen SVP. Wenige Jahre zuvor hatte er die Gemeinschaft zur Förderung des Futterbaus gegründet.
Da der Waisenvater derselben Partei angehörte, mein zukünftiger Mann, den ich kurz vor dem Krieg kennen lernte, als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Eidgenössischen Versuchsanstalt in Oerlikon tätig war, die F.T. Wahlen seit zehn Jahren leitete, hatte ich das grosse Glück, ihn persönlich kennen zu lernen. Er war von zurückhaltender, eher stiller Art, aber sehr bestimmt, und er konnte gut zuhören. Als er mich, als Angehörige eines ebenfalls vom Mehranbau betroffenen Betriebes, nach unserem Ergehen fragte, hatte ich fest im Sinn, meinem Bericht ein Tröpflein Gift beizumischen, weil uns die ungewohnte Arbeit stark forderte. Aber beim Blick in sein angespannt lauschendes, dazu gewinnend lächelndes Gesicht blieb mir das besagte Tröpfchen buchstäblich im Halse stecken. Ich musste es wieder hinunterschlucken, wissend, dass er im Recht war.
Von ihm erfuhren wir auch bei Lagebesprechungen zum möglichen Anbau, dass das Kriegsernährungsamt angesichts der sich schon lange abzeichnenden drohenden Katastrophe nicht zugewartet, sondern sich gründlich darauf vorbereitet hatte.
Bei Kriegsausbruch lag denn auch bereits ein gesamtschweizerischer Katasterplan der landwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse vor, der aufzeigte, was und wo am besten anzupflanzen, wie viel Land dafür vorhanden war. Auch darüber, wie die ausfallenden Importe zu ersetzen seien, lagen genaue Daten vor.
Nur so, das realisierten wir erst im Nachhinein, war es möglich, dass schon Ende September 1939, also vier Wochen nach Kriegsbeginn, die Lebensmittelkarten an die gesamte Bevölkerung verteilt werden konnten. Sie enthielten sämtliche Angaben über die monatlich bewilligten und einlösbaren Lebensmittelmengen, das Ausgabedatum und den Bezugsort. Die einzelnen Rationen waren auf perforierten Coupons aufgedruckt, die einzeln herausgelöst werden konnten. Sie wurden schnell zur kostbarsten Ware, weil sie die Möglichkeit zum Tausch mit Nachbarn und Bekannten boten, was als legales Geschäft häufig praktiziert wurde. Daneben gab es aber auch Schlitzohren, die es fertig brachten, ganze Karten zu verkaufen und dennoch zu ihren Rationen zu kommen. Für unsern Betrieb verlangte das Kriegsernährungsamt jeden Monat eine Liste mit den persönlichen Daten der einzelnen Bewohner. Auch die Karten für Einzelpersonen und für Familien wurden bei jeder Ausgabe genau überprüft und entsprechend nachgeführt. Auswärtige Verpflegungen mussten mit so genannten Mahlzeitencoupons abgegolten werden.
Die Heimeltern Frieda und Fritz Landolf.
Beim Bezug der Karten galt es deshalb gut zu überlegen, ob nur Lebensmittel- oder Mahlzeitencoupons, oder beides gemischt, benötigt wurden.

DIE EINZELNEN RATIONEN

Mit welcher Zuteilung man vorerst rechnen konnte, wurde in allen Zeitungen und Extrablättern publiziert. Es waren dies: 250 Gramm Brot pro Kopf und Tag bei 10 Prozent Kartoffelbeimischung. Nie frisch verkauft, sondern nur einen Tag alt, damit weniger gegessen wurde. Milch: Kinder und Jugendliche bis zu 18 Jahren 5 Deziliter Vollmilch pro Kopf und Tag. Kranke und stillende Frauen Vollmilch ohne Rationierung. Erwachsene 4 Deziliter Trinkmilch, im Notfall evtl. 2 Prozent entrahmt pro Kopf und Tag. Butter/Fett 215 Gramm pro Kopf und Woche. Speiseöl 2 Liter pro Kopf und Jahr (Mohn und Raps, weil Selbstanbau möglich). Zucker 750 Gramm pro Kopf und Monat; 5 Kilogramm Einmachzucker pro Kopf und Jahr. Dazu 4 Kilogramm Hafer-, 2 Kilogramm Gerstenprodukte, 1 Kilogramm Hülsenfrüchte und 150 Kilogramm Kartoffeln pro Jahr. Fleisch und Käse kamen erst später dazu. Einheimisches Obst und Gemüse konnten durch den Mehranbau sichergestellt werden. Süssigkeiten fehlten bis Kriegsende, waren nachher erhältlich, bis die Karten 1948 abgeschafft werden konnten.
Für teilweise Selbstversorger gab es besondere Zuteilungen. Es gab sie auch für Schwer- und landwirtschaftliche Arbeiter. So setzte sich unsere Hausgemeinschaft mit den Waiseneltern, der Köchin, der Näherin und Flickerin, die zugleich die Mädchen betreute, dem Melker und mir nach Feierabend um den runden Tisch, um unsere «besondere Lage» zu besprechen. Milch und Butter hatten wir selbst. Mit den sonstigen Zuteilungen waren wir, dank unserer fürsorglichen und für die langfristige Verpflegung besorgten Hausmutter, gut dran, denn sie hatte auch die Zeit genützt, die das Kriegsernährungsamt empfohlen hatte, sich mit Notvorrat einzudecken.
Aber die Brotration!? 250 Gramm vertilgten unsere Stallburschen, die schon um 5 Uhr im Stall antreten mussten, neben der obligaten Rösti schon zum Zmorge. Auch die Zusatzration war nicht eben üppig. Und weiter? Wie teilten wir das Brot ein, dass alle zu ihrem Recht kamen? Die beste Lösung fand die Näherin/Flickerin.
Sie nähte 40 verschiedenfarbige Stoffsäcklein, oben mit einem breiten Saum, die Mädchen bestickten sie mit den Namen der Hausbewohner und versahen jedes mit einer farbigen Schnur, die sie in einer heute kam mehr bekannten Technik, dem «Dürnteln» von Hand, nur unter Zuhilfenahme der beiden Zeigefinger, knüpften und dann zu zweien entgegengesetzt in den breiten Saum ziehen konnten, sodass die Säcklein leicht zu schliessen und zu öffnen waren. Diese Art, die sie zuhause und auch später immer wieder als billigen Ersatz für ein fehlendes Band oder eine Schnur zu Hilfe nehmen konnten, hatten sie in der Arbeitsschule gelernt.
Jeden Tag nach Feierabend setzten wir uns zu dritt an den Tisch mit der Liste der für jede Person berechneten Ration. Wer von den Vierpfündern die Scheiben schnitt, versuchte sie möglichst dünn zu machen, damit es nach «mehr» aussah. Trotzdem blieb das Brot unser Sorgenkind. Nachdem wir mehrere Male um Fleischmarken angebettelt worden waren, weil die betreffenden Personen meinten, ein Haus mit so vielen Kindern brauche doch nicht so viel Fleisch, griffen auch wir zur legalen Tauschaktion, und dies ganz konsequent. Wir tauschten die Menge Fleisch, die wir nicht benötigten, zu gleichen Teilen gegen Brot. Diese Konsequenz bewährte sich. Auf der einen Seite bekamen wir die oft arrogant und uns kaum bekannten Bettelnden los und konnten andererseits bei Bedarf unseren bisherigen treuen Kunden für Eier, Gemüse und Beeren aushelfen.

Mahlzeitenkarte, gültig ab 1. Dezember 1942.

ES KOMMT HILFE

Unser «Anbau-General» F.T. Wahlen hatte aber nicht nur die monatlichen Zuteilungen berechnen lassen. Er gedachte auch der Not der Hausfrauen, die, als sich der Krieg in die Länge zog und die Zuteilungen immer knapper wurden, oft kaum mehr wussten, was sie auf den Tisch bringen sollten. Was strich man denn aufs Brot, wenn die wöchentlichen 100-Gramm-Mödeli pro Familie aufgebraucht, im Konfitürenglas der Boden zu sehen war? Wie liess sich mit Eipulver, statt frischen Eiern ein Auflauf oder gar ein Kuchen backen?
In der Wahl seines Mitarbeiterstabes hatte F.T. Wahlen, wie sich bald herausstellte, ebenfalls eine glückliche Hand. Er holte sich Rat und Hilfe bei den Hauswirtschaftslehrerinnen, die nun mit Rezeptvorschlägen versuchten, aus den zur Verfügung stehenden Vorräten möglichst viel herauszuholen. Wir kamen dabei in unserer Abgeschiedenheit zu unerwarteten, aber unser Leben bereichernden Bekanntschaften, die zum Teil weit über die Kriegszeit anhielten. Erika Rikli, eine der Beauftragten, schaute öfters bei uns vorbei. Einesteils um sich zu vergewissern, wie wir als Grossbetrieb mit den Rezeptvorschlägen zurecht kamen und damit auch zufrieden seien. Andernteils freute sie sich über unsere Vorratshaltung und war beeindruckt von den Bergen an Kartoffeln, Kohl, Karotten, Lauch und Sellerie, die zusammen mit den Sauerkrautfässchen, dem Steinguttopf mit den in Wasserglas eingelegten Eiern als Wintervorrat in der Scheune lagerten. Gross war unsere gegenseitige Freude, als ich Frau Rikli Jahre später in einem Frauenklub wieder sah und erfuhr, dass sie seit der Pensionierung in Horgen lebte, von meinem Wohnort Thalwil einen Katzensprung entfernt, so, dass wir unsere Kriegserinnerungen austauschen konnten.

DIE KARTOFFEL, UNSERE RETTERIN

Die Kartoffel sicherte unsere Ernährung, ersetzte zu einem grossen Teil das fehlende Mehl und war beispielsweise gekocht und durchs Sieb gepresst, vermischt mit Eipulver und einer Spur Fett oder Butter als Torte hoch willkommen. Das Brot wurde schon seit Kriegsbeginn mit in gleicher Weise vorbereiteten Kartoffeln gestreckt und durfte nie frisch, sondern schon am Vortag gebacken, an die Kunden verkauft werden.
«Altes Brot ist nicht hart, aber kein Brot ist hart!», erinnerte als Mahnung und Rechtfertigung in grossen, über die Brotgestelle gehängten Tafeln die Kunden. Wer die Zeit der Brotknappheit erlebte, kann heute den Anblick herumliegenden oder im Abfalleimer entsorgten Brotes kaum ertragen.


DER LOHNERSATZ KOMMT

Schon zu Beginn des ersten vollen Kriegsjahres trat die Lohnersatzverordnung in Kraft. Sie löste bei allen, die sich noch an den Krieg 1914–1918 erinnern konnten, grösste Genugtuung aus. Damals hatten die Familien finanziell vor dem Nichts gestanden. Der Vater an der Grenze, als Soldat mit 80 Rappen Sold im Tag, die Familie ohne Einkommen. Es gab sogar Wehrmänner, so erinnerten sich damals Dabeigewesene, die von dieser kargen Entschädigung einen Teil im Wäschesack nach Hause schickten.
Da, wo die Mutter den Vater in der Fabrik ersetzen oder sonst wie eine Arbeit finden konnte, war etwas Bargeld vorhanden, sonst aber war die Familie auf die überall eingerichteten Suppenküchen angewiesen. Aus den Aufzeichnungen der Spenderin der damaligen Thalwiler Suppenküche geht hervor, dass die Gemeinde pro erwachsene Person für täglich drei vollwertige Mahlzeiten 75 bis 85 Rappen aufwenden musste, für Kinder gar nur 45. Jetzt aber erhielt die Wehrmannsfamilie vom Arbeitgeber einen der Verordnung entsprechenden, nach Prozenten seines Verdienstes verordneten Ersatz.
Für uns betraf der Lohnausfallersatz den Melker. Für jede Dienstzeit hatten wir ein von der Gemeinde zugestelltes Formular auszufüllen. Dem Hausvater wurde es allmählich zu viel. Nicht nur trug er schon die Verantwortung für den gesamten Betrieb, innerhalb dem er den grossen Hühnerhof mit 50 Hühnern, 12 Enten und 4 Gänsen betreute, ganzjährlich für Gemüse, Kartoffeln und Obst zu sorgen hatte, daneben die Buben betreute und die Büroarbeiten erledigen musste. Sein Mass war voll, dazu war er in letzter Zeit sehr müde, und der Arzt wusste keinen Rat. Seine Kräfte waren einfach verbraucht. Angesichts der angekündigten Textil-, Schuh- und Brennstoffrationierung sah sich auch die Hausmutter ausserstande, eine neue Aufgabe zu übernehmen.
So blieb dies an mir kleben, und ich machte mich, nichtsahnend, frisch ans Werk. Aber oha! Schon das erste Formular kam postwendend zurück. Der Tagelöhner, den wir mangels fehlender Arbeitskräfte aus dem Bürgerheim geholt hatten, war falsch eingestuft, denn, wie mir erklärt wurde, bezahlte die Gemeinde schon seinen Unterhalt, also war er zu einem Verdienstersatz nicht berechtigt. Dann half uns wie gewohnt ein Innerschweizer über den Heuet aus, und der war selbständiger Landwirt. Aber wie berechnete man im Kanton Uri den Stundenlohn für einen selbständigen Bauern? Nachfrage! Oft war es zum Verzweifeln, denn selbst mit Hilfe des zuständigen Gemeindebeamten, der selber auch nicht in die neue Arbeit eingeführt worden war, fand der Kanton noch irgendein verstecktes Knacknüsschen, das der nochmaligen Korrektur bedurfte – und sei dies nur ein Komma, das nicht hingehörte, oder ein Anführungszeichen. Er war so pingelig, wie ich unbekümmert war. Beides zusammengefasst, wäre daran nichts auszusetzen gewesen.
 

ES GILT ERNST MIT DEM ANBAU

Nach «Plan Wahlen» hatten wir zusätzlich Weizen anzubauen. Für unseren Betrieb kamen dabei nur zwei als Heuwiesen genutzte Flächen in Frage, die eine auf Felsen, die andere neben dem Waldrand, angrenzend an die Zollingerhäuser. Wir Frauen und die älteren Kinder waren insgeheim froh über den Verlust einer Heuwiese, denn das Zusammenrechen und Aufladen des Heus auf der schattenlosen Fläche in der brütenden Hitze war für uns mehr Strafe denn Vergnügen. Arbeitserleichternde Maschinen kamen nicht in Frage, denn nach Ansicht der vorgesetzten Behörde gab es da genug Hände in einem Haus, das ja von der Gemeinde erhalten wurde. Sie gestattete lediglich die Anschaffung des gerade auf dem Markt angepriesenen Rapid-Motormähers, der aber von Hand geführt werden musste. Eine Erleichterung sicher, aber für den die schwere, knatternde Maschine führenden Mäher ein Aufwand, der seine letzte Kraft erforderte, ihn geradezu überforderte, was dem schon älteren Hausvater widerfuhr, wenn er anstelle des im Felde stehenden Meisterknechts einspringen musste. Als Entgelt für die Anstrengung und um ja nicht als Vergeuder aufzufallen, musste ihm jeweils nach einem solch anstrengenden Tag ein Knabe in der nahen Wirtschaft Geren eine Flasche Bier holen, wobei die nahe Wirtschaft eine halbe Wegstunde entfernt lag. Dass man sich einen Harass ins Haus bringen lassen konnte, wie es für uns heute selbstverständlich ist, wäre für ihn, des Geredes wegen, gar nicht in Frage gekommen.

ES GEHT LOS!

So machte sich denn an einem sonnigen Vorfrühlingstag die Stallmannschaft mit den beiden vor den Pflug gespannten Ochsen auf den Weg nach Felsen. Wir warteten gespannt auf ihre Rückkehr, die recht lange auf sich warten liess. Sichtlich abgekämpft und ohne die Wartenden zu beachten, schirrte sie die Ochsen ab, die ihre endlich wieder gewonnene Freiheit zu einem Lauf um das Gehöft nutzten. Das taten sie stets nach einer Überanstrengung, was die Pflüger denn auch bestätigten, denn den braven Vierbeinern war wirklich zu viel zugemutet worden. Bis jetzt hatten sie noch nie eine Spitzkehre machen müssen, wie es beim Ackern erforderlich war. So hatten denn die Männer ihre liebe Not, bis sie die Tiere zur Kehrtwendung bewegt, sie einigermassen beruhigt und dann den Pflug gerichtet hatten, was eben Zeit kostete. In der Regel schonte man die braven Zugtiere vor solchen Manövern, denen sie nicht gewachsen waren. Das Bild, das der neue Acker bot, beeindruckte uns sehr, und wir verfolgten neugierig die darauf spriessende Saat bis zur Ernte.
Auch im Dorf vollzog sich das Gleiche. Statt umgepflügter Wiesen waren es die ihres farbigen Schmuckes beraubten Blumenbeete. Welcher Jammer, ihnen die durch Jahre gehätschelten Rosenstöcke und Ziergehölze zu entreissen und an ihrer Stelle die entstandenen Löcher mit Kartoffeln zu füllen, die dann, mehrfach tragend, den ärgsten Hunger stillen sollten!
Gut, dass die dabei gegen den «Planer» ausgestossenen Verwünschungen sich gewichtlos in Luft auflösten, gewogen in Gramm und Kilos, hätten sie ihn glattweg erdrückt. Wären die beim Ausgraben der Gartenlieblinge heimlich vergossenen Tränen zum Meer zusammengeflossen, hätte es eine Schwimmhilfe gebraucht, um sich über Wasser halten zu können! Gleichwohl, niemand hätte auch nur im Entferntesten daran gedacht, gleich mit der Fahne auf die Strasse zu rennen, um dort lauthals über das ihm zugefügte Unrecht zu demonstrieren. Bald hatten die Gärten mit den Soldaten etwas Gemeinsames. Sie kamen im einheitlichen, grünen «Look» daher. Nur, dass das Grüne später mit den farbigen Blüten ein spezielles Design bekam.

JEDER FAMILIE EINEN PFLANZBLÄTZ

Wer über keinen Pflanzblätz verfügte, bekam von der Gemeinde einen zugeteilt. Dafür musste jedes freie Plätzchen genutzt werden, u.a. auch die Eidmatt-Wiese, wo noch einige verstreut stehende Grabsteine daran erinnerten, dass sie einst als Friedhof gedient hatte. Unser Haus war vom Gemüse-Anbau nicht betroffen. Für die Gemeinde nahm sich der Industrie-Arbeitgeberverein Wädenswil/Richterswil der Beschaffung des nötigen Pflanzlandes an, das zum Teil am Wädenswiler Berg und sogar auswärts am Rossberg, in der March, im Wangener Ried lag. Als kein Ende des Krieges vorauszusehen war, musste auch noch das Beichlenried drainiert und dem Anbau zugeführt werden.
Unsere Stallmannschaft freute sich riesig bei der Ankündigung, dass das Beichlenried zu Ackerland gemacht würde. Sie war ja bis jetzt dazu verknurrt gewesen, dort im Herbst das Riedgras zu mähen und zur Streue vorzubereiten. Allein schon das zähe Riedgras von Hand zu mähen, zerrte am letzten Nerv. Wie oft verbiss sich die Sense an einem Wurzelstock, und es konnte vorkommen, dass sie beim heftigen Wegreissen dem Mäher in den Fuss, ja sogar durch die Schuhe fuhr und am Fuss ein tiefe Schnittwunde hinterliess. Zu allem Übel musste dann der geplagte Mäher noch heimrennen, was eine gute halbe Stunde in Anspruch nahm, und danach zum Arzt, der die Wunde nähte. Obwohl die meisten Riedbesitzer den Verlust der Streue bedauerten, gab es keine lauten Proteste. Der Krieg forderte seine Opfer! Nur – die Kehrseite! Mit der Trockenlegung des Riedes ging ein für die Natur wertvolles Stück Land verloren. Im Frühjahr war jeweils das zwischen den bläulich-grünlich schimmernden Binsen dunkelrot aufblühende, gefleckte Knabenkraut, später die gelbe und blaue Schwertlilie für die Sonntagsspaziergänger eine Augenweide. Bei Kriegsbeginn, als eine Verknappung der Kohlenvorräte angekündigt wurde, stachen unsere Stallburschen nach Jahren des Unterbruchs sogar noch Torf zum Heizen.
Nicht nur im ersten Herbst, sondern auch in den fünf folgenden, wenn das reichlich herangewachsene Gemüse jeglicher Art gesammelt und gewogen wurde, musste auch der uneinsichtigste Stänkerer dem «Plan Wahlen» zustimmen. Denn dieser bewährte sich bestens. Und jetzt muss man sich fragen: Hätten wir beim heutigen Bauboom immer noch genügend Anbaufläche zur Selbstversorgung?
Getreideernte auf dem alten Friedhof in der Eidmatt, Sommer 1943.

J.R. VON SALIS BRINGT LICHT INS DUNKEL

Bis jetzt waren wir zur Hauptsache mit unsern eigenen Sorgen und Aufgaben beschäftigt. Vom Kriegsgeschehen rund um unser Land wurden wir eigentlich recht einseitig informiert, stets ging es um neue und am Radio lauthals verkündete Siegesmeldungen der deutschen Wehrmacht, an deren Seite nun auch Italien kämpfte. Aus dem Bundeshaus flossen die Nachrichten recht spärlich. Wir erfuhren dann erst im Nachhinein, dass wir unter einem enormen Druck standen und äusserste Zurückhaltung geboten war, um das Fass nicht zum Überlaufen zu bringen.
Wie ein Geschenk vom Himmel platzte deshalb die Botschaft in unsere Ungewissheit, dass Radio Beromünster nun wöchentlich einen Kommentar zur Weltlage von Jean Rodolphe von Salis ausstrahlen werde. Von Salis lehrte Allgemeine Geschichte an der ETH Zürich. Bekannt war er als Publizist für mehrere in- und ausländische Zeitungen. Er wohnte in seinem Familiensitz auf Schloss Brunegg bei Lenzburg. Seine ruhig und sachlich, in für alle verständlicher Sprache übermittelten Kommentare zum allgemeinen Kriegsgeschehen mit seinen Konsequenzen für unser Land löste uns aus unserer bisherigen Erstarrung und Mutlosigkeit, gab uns Auftrieb, uns auf uns selber zu besinnen und unsere Kräfte zu bündeln im Kampf gegen alle Widerwärtigkeiten und Gefahren, die uns möglicherweise noch begegnen könnten. Unser sonst so sparsames Haus überraschte seine Bewohner eines Tages mit einem nigelnagel neuen Radio, das unser Esszimmer zu einem regelrechten Anziehungspunkt für alle machte. Die Kinder freuten sich unbändig über das, wie sie meinten, ihnen zugedachte Geschenk, das im Grunde genommen für die Erwachsenen wegen der angekündigten Sendungen von J.R. von Salis angeschafft worden war. Wer zur Sendezeit noch im Dorf zu tun hatte, konnte die aus allen Fenstern weit auf die Strasse schallenden Nachrichten dennoch hören.
Erst Jahre später, als der Krieg zu Ende und die Schweigepflicht des Radios erloschen war, erfuhr man, dass Hitler mehrere Male gegen diese Sendungen Einspruch erhoben und von der Schweiz verlangt habe, diesen Kommentator abzusetzen. Er aber setzte sich durch, bestärkt auch durch die vielen Dankesbriefe seiner interessierten Hörer. Auch nach dem Krieg führte von Salis seine wöchentlichen Sendungen weiter, wurde auch in der ganzen Schweiz zu Vorträgen gerufen, bei denen man seinen Platz frühzeitig sichern musste. Er starb hochbetagt und hinterliess seinem Land u.a. das dreibändige Werk «Weltgeschichte der neuesten Zeit».
 

DER KRIEG KOMMT NÄHER

Unsere Bekannte aus Thalwil mit der kleinen Soldatenwäscherei meldete ihren Besuch an. Wir vermuteten, dass wieder einmal eine «Grossbachete» zu einem süssen «Extra» bevorstand, zu dem die Eier fehlten. Aber diesmal ging es um weit Wichtigeres, und sie platzte gleich damit heraus. Schon zum zweiten Mal, berichtete sie aufgeregt, habe ein Zug von Deutschland herkommend in Thalwil Halt gemacht und sei dann stundenlang auf einem Abstellgleis stehen geblieben, bis ihn eine Lokomotive Richtung Tessin nach Italien weiterbefördert habe. An die vergitterten Fenster der verrosteten Wagen aber hätten sich, kaum habe der Zug angehalten, Soldaten, eben italienische, geklammert und dabei «Acqua, Acqua» geschrien. Zwar habe die Bewachungsmannschaft zuerst abgewinkt, lediglich bei der drückenden Hitze die Wagentüren geöffnet. Was dann da die Nase zu spüren bekam, möchte sie nicht beschreiben. Schlimmer noch die Schreie und Rufe, die aus dem Wageninnern kamen, die hätten ihnen fast den Verstand geraubt. Schnell seien die Frauen unter den Herumstehenden verschwunden und bald darauf mit Tee und sonstigem Trinkbaren wieder zurückgekehrt, das sie dann in die ausgestreckten Hände geschoben hätten, ohne dass die selber unter Durst leidenden Wachen Einspruch erhoben hätten. Ja, diese hätten selber zugegriffen.
Noch lange seien sie, nach Abfahrt dieses Zuges, auf dem Bahnhof stehen geblieben und hätten über das Erlebte gesprochen und sich gefragt, ob die neutrale Schweiz denn solche Transporte erlaube. Das sei nicht der letzte gewesen, habe ihnen der Bahnhofvorstand dann erklärt. Italien sei, wie auch die Schweiz, der von Henri Dunant ins Leben gerufenen Internationalen Konvention des Roten Kreuzes zum Schutze der Gefangenen und zur Rettung der Verwundeten beigetreten, deshalb seien diese Transporte für unser Land legal und ganz selbstverständlich.
Die bisher eher leise köchelnde Gerüchtesuppe erhielt durch die Verwundetentransporte neue Nahrung und brodelte weiter. Aber waren dies nur Gerüchte? Neu aufgenommene Flüchtlinge berichteten, dass sich beim Einmarsch der Deutschen in Paris tausende hier Schutz suchende Flüchtlinge Hals über Kopf davongemacht hätten und in einem kaum übersehbaren Strom Richtung Südfrankreich geflohen seien. Das Schlimmste aber für unser als humanitär bekanntes Land sei, sie wagten es kaum auszusprechen, dass unter den hier Schutz suchenden Flüchtlingen die jüdischen zurückgewiesen worden seien mit der fadenscheinigen Begründung, das Boot sei nun voll. Unter den Wissenden löste diese Nachricht die sich oftmals bestätigte, Empörung und Wut aus.

DAS FLÜCHTLINGSELEND

Die Not der Kriegsflüchtlinge, über die die wildesten Gerüchte kursierten, liess die Bevölkerung nicht mehr los, und sie brachte auch uns ganz durcheinander. Deshalb lud uns Anna Felix, die einzige Frau in der Waisenhauskommission, nach Zürich zu einem Vortrag ein, an dem wir mehr über das Schicksal der ungezählten Flüchtlinge erfahren sollten. Die Vortragende hiess Regine Kägi-Fuchsmann, in eingeweihten Kreisen als eine der Flüchtlingsmütter bekannt. Als Gründerin des Arbeiter-Hilfswerkes und zu dessen Sekretärin ernannt, hatte sie sich gleich an Ort und Stelle über das Los der Flüchtlinge, vor allem der Kinder, in den Auffanglagern orientieren wollen. Sie kam eben von ihrer Reise aus Südfrankreich, dem Ziel der meisten Flüchtenden, zurück. Im Vortagssaal war jeder Platz besetzt, so mussten wir uns den Vortrag stehend anhören. Was wir aber zu hören bekamen, überstieg unsere Vorstellungskraft. Zusammengepfercht, berichtete Frau Kägi, in Baracken ohne Fenster, ohne Licht und Wasser vegetierten diese Menschen dahin, beraubt allen persönlichen Gutes, ohne Papiere. Mit Glück vielleicht im Besitze einer rostigen Büchse, die sie zum Fassen der im Lager verteilten Suppe benutzen konnten: einem Gebräu von 99 Prozent Wasser und einer Spur Rüben. Sie waren, bedroht durch die Nazis, schon vor Beginn der Feindseligkeiten nach Paris in die vermeintliche Sicherheit geflohen und mussten dann beim Einmarsch der Deutschen überstürzt die Flucht fortsetzen. Hier aber fehlte es ihnen an allem, der Hunger wurde ihr ständiger Begleiter und raffte täglich viele dahin.
Dass hier zuerst mit Lebensmitteln geholfen werden musste, wurde Frau Regine Kägi sofort klar. Deshalb hatte sie ja den Abend organisiert, denn sie brauchte Geld. Es floss stets auch reichlich und erlaubte es der Initiantin, gleich im eigenen Hause mit freiwilligen Helfern einen Versanddienst einzurichten, der sich mit Spenden aus allen Bevölkerungskreisen stets vergrösserte. Mit der unerwarteten Hilfe einflussreicher Persönlichkeiten, darunter vielen Politikern, gelang es auch, den Transport sicher zu stellen. Fünf Kilo Lebensmittel wog jedes Paket, das als «Colis Suisse» die Flüchtlingslager erreichte und Regine Kägi den Ruf als Flüchtlingsmutter eintrug. Erst nach dem Krieg erfuhren wir, dass es zeitweise täglich bis zu 600 «Colis Suisse» wurden. Ein wahres Wunder, das die Helferinnen zeitlich und in der Enge des zur Verfügung stehenden Raumes vollbrachten.
Leider mussten wir die Diskussion vorzeitig verlassen, den letzten Zug durften wir nicht verpassen. Wir bekamen aber noch mit, dass es noch eine andere, wirkliche Flüchtlingsmutter gab, die als solche in die Kriegsgeschichte einging. Auf der langen Bahnfahrt klärte uns dann Anna Felix über die wirkliche Flüchtlingsmutter auf. Sie hiess Gertrud Kurz, wohnte in Bern, gehörte, wie die gleichaltrige Regine Kägi ebenfalls der Kreuzritterbewegung an und war deren Generalsekretärin. Diese Funktion behielt sie auch bei, als sich die Institution zum Internationalen Christlichen Friedensdienst (ICF) entwickelte. Gertrud Kurz war überzeugt, dass Versöhnung eher zum Frieden führe als Kampf und stand deshalb stets für Versöhnung ein. Ihre Sorge galt vorab den Heimatlosen, die keine Kirche hinter sich hatten, und jetzt waren es zur Hauptsache jüdische Flüchtlinge, die ihren Beistand brauchten. «Wir können ihr nicht genug danken, dass sie der ‹Schande› mit der Abweisung jüdischer Flüchtlinge an der Grenze ein Ende bereitete», erklärte Anna Felix. «Gertrud Kunz wagte es, den Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizei-Departements, von Steiger, in seinen Ferien auf dem Mont Pélerin persönlich aufzusuchen. Sie bat ihn, die verhasste und für alle unverständliche Rückstellungsverordnung für jüdische Flüchtlinge sowie ihr Erkennungszeichen als Jude – das ‹J› auf dem Pass –, zu lockern. Sie konnte den Bundesrat umstimmen und erreichte, dass diese unserem Land zur Schande gereichende Rückweisungsverfügung stark gelockert wurde.»
Beide Frauen wurden später mit der Doktorwürde geehrt. Ihre begonnenen Werke aber leben weiter. Regine Kägi verdanken wir die Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes und die Flüchtlingshilfe des Arbeiterhilfswerkes, Gertrud Kurz die Zentralstelle der Schweizerischen Flüchtlingshilfe.
Wir aber, um nochmals auf die Flüchtlinge zurückzukommen, erzählten den Kindern vom Gehörten, und sie beschlossen ganz spontan, den Flüchtlingskindern Spielsachen zu schenken, und sie gingen mit Eifer an die Arbeit.

DIE ROHSTOFFE WERDEN RAR

Unsern Produktionsbetrieben fehlte der Rohstoff, für den sie keinen Ersatz finden konnten. Im Textilbereich hatte man ihn teilweise mit der Entwicklung synthetischer Fasern gefunden. Jetzt aber ging es um Eisen und Kupfer. Für sie rief Friedrich Traugott Wahlen zur nationalen Sammlung auf, die erfolgreich verlief. Unbeschreiblich, was da an alten Maschinen, Eisenteilen und Kupfergeschirr zum Vorschein kam, wenn auch für Letzteres heimlich manche Träne floss.
In unserer Küche brach Jubel aus. Die Bitte der Hausmutter, unsere schweren und unhandlichen Kupferkasserollen gegen die nun bei der Firma Blattmann in Wädenswil hergestellten Metallpfannen einzutauschen, war in der Kommission auf offene Ohren gestossen. Es war ein Festtag, als sie mit der Küchenmannschaft zu einem Fabrikbesuch zur Auswahl eingeladen wurde. Die gleiche Firma hatte einen energiesparenden Wassertopf, den «Caldor» auf den Markt gebracht. Man konnte ihn auf einer Pfanne mit kochendem Inhalt aufsetzen und mit dem Kochdampf gleichzeitig Wasser erwärmen. Unsere Küche mit den neuen Pfannen war wie verwandelt. «Jetzt brauch ich nur noch Holz zum Feuern!», frohlockte die Köchin, und sie verstieg sich gleich zu einem Festessen. Nun war sie nicht mehr auf Kohle angewiesen, die, wie Gas und Elektrisch, ohnehin knapp zugeteilt wurden. Die Kontingente waren so knapp, dass F.T. Wahlens Ernährungsberaterinnen wieder einmal ausschwärmen und mit den Frauen Lösungen suchen mussten. Nun kamen die Kochkisten wieder zu Ehren. Sie waren bald in jeder Küche anzutreffen. Bei genauer Anweisung mit der noch kochend eingefüllten Suppe zuunterst und den darüber gestellten Gemüsepfannen war das Mittagessen gesichert.
Was sonst an Sammelgut empfohlen wurde, war uns nicht neu, denn wie sammelten durchs Jahr alles, was uns der Lumpensammler abnahm. Er kreuzte einmal im Jahr bei uns auf mit Ross und Zelttuch bespanntem Wagen und wog unsere bereitgestellten Säcke mit Woll-, Baumwoll- und Leinenresten, Silberpapier, gereinigten Knochen, verbogenen Nägeln und unbrauchbaren Eisenteilen auf seiner Handwaage. Geld gab es dafür nicht, wir durften, je nach Gewicht, ein irdenes Milchentrahm-Becken, Teller oder «Kaffeekacheli» auslesen. Dazu hoben wir das Zelttuch ein wenig und wühlten blind im Stroh nach den versprochenen Geschirrstücken, die dort gelagert waren. Den Kindern machte es jedes Mal Spass, blind im Stroh zu wühlen. Lumpensammler Kümin aus der Innerschweiz verstand sich auch aufs Flicken des irdenen Geschirrs. Mit Draht heftete er jeweils die zerbrochenen Teile kunstvoll zusammen und brachte die «Flickete» bei seinem nächsten Besuch zurück.

UNSER ERSTER WEIZEN

Von der Aamühle kam Bericht, dass wir in einer Woche unsern Weizen bringen müssten. Der nasse Sommer hatte unsern Weizen wohl kräftig wachsen, aber nicht genug reifen lassen. Die letzte Woche aber hatte die Sonne etwas nachgeholt, und die Männer wagten den Schnitt.
Wir machten uns mit Eifer ans Garbenbinden, denn in unsern Köpfen, besser gesagt in unserer Fantasie, spukten Bilder von flinken, singenden Garbenbinderinnen in farbigen Kopftüchern, wie sie in Gedichten beschrieben, in Liedern besungen wurden.
Wir aber spürten bald, dass auch das Garbenbinden gelernt sein musste. Fassten wir die einzelnen Halme nicht richtig an, hatten wir sie bald im Gesicht oder am Hals, wo ihre scharfen Spitzen Kratzer, oft blutende, auf der Haut hinterliessen. Die sich im Gesicht sammelnden Schweisstropfen rannen wie Bächlein in unsere Augen, über die Nase und hinterliessen auf den Lippen einen salzigen Geschmack. Wie gut, dass der Mostbub fleissig die Runde machte. Da konnten wir wenigstens etwas aufatmen und uns zwischendurch richtig ausstrecken.
Vom harmonischen Anblick geernteter und sauber zu Garben gebundener Ähren, immer zu dritt als Puppe aufs Feld gestellt, wie wir dies aus Bildern berühmter Maler in Erinnerung hatten, war dann freilich bei getaner Arbeit wenig zu spüren. Unsere Bemühungen, die Puppen in regelmässigen Reihen aufzustellen, waren einigermassen erfolgreich, nur standen einige in bedenklicher Schieflage. Wie wir feststellten, war die Garbe immer dort, wo sie nicht in der richtigen Höhe gebunden, ihrem Schwergewicht gefolgt, hatte sich selbständig gemacht und dabei die Harmonie des aufgestellten Gebildes zerstört. «Aller Anfang ist schwer», neckten unsere zur Begutachtung erschienenen Nachbarn. Aber vielleicht blühte ihnen dasselbe, sie kamen demnächst auch an die Reihe.

AUF ZUR AAMÜHLE

Frühzeitig machte sich unsere Stallmannschaft am nächsten Tag auf zur Aamühle. Leider waren Nachbar Zollingers Pferde als «Eidgenossen» im Dienst. So mussten unsere eigenen Zugtiere Max und Moritz den schweren Erntewagen zur Mühle fahren, was bei ihrem gemächlichen und nicht aus der Ruhe zu bringenden Ochsen-Trippel gut zwei Stunden in Anspruch nehmen würde.
Den ungeduldig und voller Neugier auf ihre Rückkehr wartenden Daheimgebliebenen aber hatten die Männer nichts Gutes auszurichten. Herr Haab, berichteten sie, habe bei der Prüfung des Korns bedenklich den Kopf geschüttelt und ihnen erklärt, dass die Körner zu wenig ausgereift seien und sie deswegen kein trockenes Mehl erwarten dürften. Andern Bauern sei es genau so ergangen. Das linke Ufer sei eben keine Kornkammer, da gedeihe die Frucht nur in heissen, trockenen Sommern. Und richtig, als die Köchin ihren Anteil für den Hausgebrauch entgegennehmen durfte, schimpfte sie wacker drauflos und erklärte, mit diesem grauen Zeug gäbe es keine echten «Knöpfli», keine hellen Omeletten. Man musste ihr wirklich beipflichten, denn bei näherem Hinsehen hatte das Mehl unübersehbar und unverkennbar einen Stich ins Graue.
Jetzt warteten wir ungeduldig auf den Freitag, an dem Herr Haab, gleichzeitig Bäcker, sein eigenes Brot selber mit Ross und Wagen bei seiner Kundschaft ablieferte. Er war noch der einzige Bäcker im Dorf, der ausschliesslich Sauerteig verwendete. Seine Freitagsrunde hatte am Berg Tradition. Keine Bäuerin oder Hausfrau wäre an diesem Nachmittag weggegangen, Herr Haab durfte nie vor einer leeren Türe stehen, zu seinem sprichwörtlich gut und luftig gebackenen Brot gehörte der übliche Schwatz, wenn auch nur kurz bei seiner langen Tour auch in den abgelegensten Hof. Während er die bestellten Vierpfünder in unsere Vorratskammer trug, machte sich sein «Choli» selbständig, vollführte einen Schwenker zum Küchenfenster, das für ihn stets offen stand, damit er seinen Kopf hineinstecken und den für ihn vom Küchenmädchen Frida aufgesparten Leckerbissen entgegennehmen konnte. Dabei umringten ihn die herbei geeilten Kinder, deren Tätscheln und Streicheln er geduldig über sich ergehen liess, wer weiss, es vielleicht erwartete.

FEUCHTES MEHL GIBT FEUCHTES BROT

Das Brot war, wie vorausgesagt, eben feucht und «tangelig-klumpig» und minderte vorerst die Freude über das eigene, ohne «Märkli» erhaltene. Aber es musste gegessen werden, denn noch warteten etliche Vierpfünder in der Vorratskammer. «Dazu war ja Krieg, wo viele Leute nicht einmal Brot hatten!», hiess es beim Anblick der vielen enttäuschten Gesichter. Zur Feier und auch Erinnerung versüsste ein Aufstrich von Butter und Konfitüre diesen denkwürdigen Eigen-Brot-Tag.
Das Waisenhaus betrieb eine während des Krieges besonders wichtige eigene Landwirtschaft. Dazu dienten auch zwei Scheunen. Der hier abgebildete Bau wird demnächst abgebrochen. Aufnahme vom September 2007.

URLAUB

Nun befanden wir uns bereits im dritten Kriegsjahr und noch immer war kein Ende in Sicht. Wir spürten die Folgen an den immer schmaler werdenden Lebensmittelzuteilungen und den sich bedrohlich verknappenden Energieträgern. In den mit Gas eingerichteten Küchen wagten sich die Frauen kaum mehr an Speisen mit langer Kochdauer aus Angst, ihnen würde wegen überzogenem Gebrauch der Gashahn zugedreht. Die Kochkiste kam fast aufs Ehrenpodest.
Gleichwohl vollzog sich in der Grenzbewachung eine gewisse Lockerung, die wohl dem unerwarteten und unerbittlichen Widerstand der deutschen Wehrmacht in Russland und seinen nun doch absehbaren Folgen zuzuschreiben war. Die Soldatenurlaube wurden grosszügiger, was sich besonders für die Landwirtschaft und die kriegswichtigen Betriebe auswirkte. Die Landwirte wurden beispielsweise zur Ernte- und Anbauzeit beurlaubt. Auch Wochenendurlaube gab es vermehrt und sogar blosse Sonntagsurlaube im erlaubten Umkreis. Da kam dann am Samstagabend oder gar am Sonntagmorgen unverhofft ein telefonischer Anruf, dass man sich zur bestimmten Zeit an eine bestimmte Bahnstation begeben solle mit dem Nachsatz: «Alles andere ergebe sich dann von selbst.» Grundsätzlich durfte kein Soldat seinen Stationierungsort bekannt geben. Eine der eindrücklichsten Anreisen, die mir noch lebhaft in Erinnerung bleibt, war diejenige nach der Bahnstation Affoltern am Albis, wo sich dann, wie es stets hiess, alles andere ergeben werde. In Affoltern stand dann wirklich ein Soldat am Bahnhof; mit der üblichen Frage: «Sind Sie Frau, Braut oder Freundin?» Auf das «Ja» dann ein Fingerzeig nach hinten, wo sich alles von selbst ergeben musste. Wirklich, da standen Ross und Wagen bereit.
Ein Peitschenknall, und los ging es über grünende Felder bis mitten in die blumengeschmückten Riegelhäuser von Rifferswil. Hier bot sich den Besucherinnen, wie gewohnt, das bekannte Bild. Beiderseits der Strasse die lückenlose Reihe wartender Soldaten, die sich mit ihrer Ankunft im Nu verdoppelte, um dann paarweise in alle Richtungen an ein unbewachtes Plätzchen zu verstieben, als wäre das Ganze ein blosser Spuk gewesen.

Dem Kriegsende entgegen

Die Vermischung Militär/Zivil in einer, wie uns schien, sich stabilisierenden Lage sollte uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass um uns der Krieg weitertobte. Nach der Nachrichtenübermittlung von J.R. von Salis nun europaweit, dazu in Russland, wo die siegesgewohnte deutsche Wehrmacht erstmals scheiterte und in uns einen Hoffnungsschimmer auf ein wirklich absehbares Ende aufkeimen liess. Monate später kamen erste Anzeichen aus dem Schaffhausischen, wohin sich Zwangsarbeiter in Kriegsgefangenschaft hatten flüchten können. Was sie von ihrem menschenunwürdigen Dasein im fremden Lande erzählten, liess jedermann erschauern. Erschütternd zudem die Aussagen, dass es in Deutschland nicht nur Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter in Lagern gebe, sondern auch Konzentrationslager, in denen die Menschen, allen voran Juden, bestialisch umgebracht würden. Jetzt erst wurde das seit einiger Zeit kursierende, aber nicht für menschenmöglich gehaltene Gerücht von Konzentrationslagern zur Gewissheit. Den ersten Flüchtlingen, welche die Grenze ohne Schwierigkeiten hatten überschreiten können, folgten bald ganze Heerscharen, die nach kurzen Aufenthalten zur Stärkung und Neu-Einkleidung mit der Bahn an die Grenzen ihres Heimatlandes transportiert wurden.
Die Berichterstatterin Annemarie Zogg-Landolf, heute 89-jährig.
Als geeigneter Zwischenhalt mit Unterkunft bot sich das Zürcher Hallenstadion an. Die Bahn brachte die Vertriebenen vorerst nach Zürich-Altstetten, von wo sie zu Fuss durch Zürichs Strasse nach Oerlikon geleitet wurden. Ihr Anblick erschütterte jedes Herz. Bleiche, ausgemergelte Gestalten in Textilfetzen, die kaum noch zusammenhielten, vor sich Geschenke haltend, die ihnen die aus den Fenstern schauenden Neugierigen in der ersten Aufwallung zugesteckt hatten. Immer aber, wenn man sich mit ihnen verständigen konnte, waren sie alle von der gleichen Hoffnung beseelt, daheim gehe es nun wieder aufwärts.
Als dann am 8. Mai 1945 alle Glocken den Frieden verkündeten, blieb in den Kirchen kein Platz leer. Der Dank für die gnädige Bewahrung quoll aus übervollen Herzen. Sie liessen denn auch das denkwürdige Beisammensein zur eindrücklichen und einmaligen Feierstunde werden. Die Soldaten wurden entlassen, ihre lange Dienstzeit ging vorüber. Nur, und das klingt beinahe nach Bestrafung, nur die Ortswehr gesamthaft musste noch ein Jahr lang ihren Bewachungsdienst weiterführen.

EIN RÜCKBLICK

Von den damals im Waisenhaus Lebenden sind nur drei Frauen zurückgeblieben, die noch immer Kontakt pflegen. So gilt das jeweilige Zusammentreffen zu einem grossen Teil den gemeinsam durchgestandenen Kriegsjahren. Wir sind uns einig, dass unsere Erziehung wohl streng, aber gerecht war. Unmöglich auch, auf das Einzelne der zuweilen dreissig Kinder einzugehen. Wenn uns auch die abschätzige Bezeichnung «Waisenhäusler» oft schmerzte, gab es dafür manchen Ausgleich. Da wir mit dem Vater zweimal in der Woche zusammen sangen und dabei alle Lieder auswendig lernen mussten – am Sonntagabend Kirchen-, am Mittwochabend weltliche Lieder – galten wir im Dorf als Singvögel, in der Arbeitsschule waren wir stets allen voran, weil wir schon als Schülerinnen alles selber flicken lernten und dabei grosse Übung hatten. Nach der Singstunde lasen Vater und Mutter uns jeweils Geschichten aus der klassischen Kinderliteratur vor, was uns manchen Anstoss zum Selber-Lesen gab.
Auch an Höhepunkte schon vor dem Krieg erinnern wir gerne. Beispielsweise an den freundlichen, uns Kindern wohlgesinnten Herrn Schiess, der in Wädenswil eine Fuhrhalterei betrieb und uns jeden Sommer zu einer Ausfahrt mit Zvieri einlud. Welchen Stolz, gemischt mit Freude, wir jedes Mal hatten, wenn seine Fuhrleute mit ihren festtäglich aufgeputzten Gäulen auf unserm Hof erschienen, um mit uns über Land zu traben! Wir unterhielten die Fuhrleute mit Gesang, den sie sehr liebten. Dafür erlaubten sie ihren Fahrgästen, sich abwechslungsweise neben sie auf den Bock zu setzen und überliessen ihnen zuweilen sogar die Zügel. «O, die altmödig Schuelreis», spöttelten oft die am Wege stehenden Fussgänger. Das aber störte unsern Gesang keineswegs, wir waren einfach glücklich auf diesen so seltenen Fahrten.
Auch das Bild der stets gepflegt und würdig daher schreitenden Fräulein Haas, der Gesellschafterin von Fräulein Gessner, der letzten Nachfahrin der bekannten Seidenweberei Gessner, blieb uns unvergessen. Ein paar Tage vor der Chilbi besuchte sie uns mit dem kunstvoll geflochtenen Körbchen am Arm, worin in einem bedeckten und versiegelten Brief der Chilbibatzen verwahrt war, den sie den Eltern mit einer Grussbotschaft überreichte. Um die Weihnachtszeit berichtete uns der Vater, dass Herr Walter Weber aus der Brauerei jedem Kind zehn Franken fürs Sparheft geschenkt habe. Eine Botschaft, begleitet jedes Mal mit der Aufforderung, Herrn Weber auch freundlich auf der Strasse zu grüssen. Dasselbe wiederholte sich auch für Herrn Willy Suter, Tirggelfabrikant, der unserer Weihnachtsbestellung jedes Mal das gleiche Quantum der feinen Honigtirggel als Geschenk beifügte, sodass der Melker die beiden grossen Kisten mit den Ochsen abholen musste. Die beigelegte Karte, sinnigerweise mit dem Bild Pestalozzis bei den Waisenkindern in Stans, enthielt Gruss und Begründung, die dahin lautete: «Den braven Waisenkindern, weil sie mich immer so freundlich grüssen.» Wenn wir Herrn Suter, seinen eleganten Stock mit silbernem Knauf schwingend, auf der Strasse trafen, vergassen wir das Grüssen nie, ja wir standen jeweils still und krähten unsern Gruss auch über die Strasse, was ihn sehr zu freuen schien, ohne dass er den wahren Grund kannte, der ja eben in der Aussicht auf weitere Tirggelschenkungen lag.
Jetzt, alt geworden, und mit Enkeln, die eine andere Welt als wir erleben, denken wir oft mit etwas Wehmut zurück, dass ihnen trotz ihrer neuen und für uns oft fremden Erlebnisse und Erfahrungen so vieles entgangen, was für uns noch selbstverständlich war. Noch nie hatten sie, wie wir, ein Küken aus dem Ei schlüpfen sehen, nicht miterlebt, welch enormer, mühsamer Kraftaufwand nötig war, damit es sich von der Schale lösen konnte, sodass es mehrmals ermattet innehalten musste, bis es zu einem neuen Anlauf reichte. Nie hatten sie die Freude mitmachen können, wenn die Glucke dann voller Stolz ihre Familie auf dem Hof vorführte, aber auch in Panik geriet, wenn ihre Schützlinge, weil sie ohne Wissen die falschen Eier ausgebrütet hatte, statt ihrem Glucksen zu folgen, im nahen Weiher verschwanden und fröhlich herum schwaderten.
Erzählten wir ihnen, wie wir an schönen Sommertagen auf dem Ausguck am Hügel hoch über dem Haus in den verdämmernden Abend hinein sangen, oder bei Einbruch der Dunkelheit still und gespannt die Fledermäuse im Hof beobachteten, wie sie, eine nach der andern, ihren Schlafplatz im Scheunengebälk verliessen und mit ausgebreiteten Flügeln in der Dunkelheit verschwanden, wo sie nur ein leises Zirpen verriet, das über unsern Köpfen schwebte. Dann ist es für sie, als hörten sie ein Märchen. Für uns aber waren es eindrückliche Erlebnisse, die uns das ganze Leben begleiteten.




Annemarie Zogg-Landolf