«SOLIDARITÄT» – NUR EIN SCHLAGWORT?

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1999 von Vinzenz Bütler

Sozial sein heisst eigentlich solidarisch sein. Ein soziales Verhalten ohne Solidarität ist undenkbar. Deshalb stelle ich den Begriff Solidarität ins Zentrum meiner Überlegungen, auch wenn dieses Wort, oft als Schlagwort gebraucht, reichlich abgenützt wirkt.
Ohne die auch heute noch oft geübte gegenseitige Unterstützung auf privater Basis, zum Beispiel innerhalb der Familie, würden die staatlichen Sozialeinrichtungen zusammenbrechen. Hier wird immer noch viel Eigenverantwortung getragen. In Frage gestellt wird heute gelegentlich die Solidarität im gesamtgesellschaftlichen Rahmen − so beispielsweise der sogenannte Generationen-Vertrag. Dass nunmehr für Rentner die Steuerlast in ihrem letzten Lebensabschnitt angehoben wurde, ist meines Erachtens ein Zeichen abnehmender Solidarität. Der Generation, welche sich in Krisenzeiten und Weltkrieg so solidarisch zu Staat und Mitmenschen verhalten hat, wird ihre Solidarität schlecht gedankt.
Solidarität hat die Schweiz zu dem gemacht, was sie heute ist. Für uns Zeitgenossen ist Solidarität im gesamtgesellschaftlichen Rahmen vor allem noch in der gemeinsamen Bewältigung der grossen Probleme vor, während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg sichtbar. Vor Jahrzehnten war Solidarität auch in unserer Gemeinde noch vielerorts weit häufiger als heute erlebbar: Nachbarschaftliche Hilfe, aktives Bemühen in unzähligen Vereinen, Teilnahme an gemeinsamen Anlässen usw. vermittelte ein Gefühl der dörflichen Zusammengehörigkeit. Wie sieht das heute aus? Wir sprechen zwar dauernd von Solidarität − wie jetzt auch ich − aber leben wir sie denn auch? Sitzen heute nicht allzu viele vor dem Fernseher und lassen die Allgemeinheit, in den Vereinen die andern, die Probleme lösen? Pflegen wir noch Kontakte ausserhalb unserer fest eingeplanten Tagesstrukturen und unserer vier Wände? Nehmen wir unsere Pflichten den Mitmenschen gegenüber wahr, worunter ich auch die staatsbürgerlichen Pflichten rechne?
Das 1848 gebaute Waisenhaus Wädenswil dient heute als Durchgangsheim für Asylbewerber. Stahlstich von Rudolf Ringger aus den 1860er Jahren.

Solidarität, um dieses Modewort weiter zu strapazieren, fehlt zunehmend in der modernen Wirtschaft − und damit auch in der Arbeitswelt − im Zuge der Globalisierung, Rationalisierung, Gewinnmaximierung. Der Anteil der Gewinne aus Kapital vergrösserte sich in den letzten Jahren rasant zulasten von Wertschöpfung aus Arbeit, eine Entwicklung, die existenzielle Probleme aufwirft, nicht zuletzt bezüglich Beitragssymmetrie beim Staatshaushalt.
Unsolidarisch ist zweifellos auch unser Finanzgebaren. «Kaufe heute, zahle morgen», ist die Handlungsmaxime. Das Leben auf Pump − an vorderster Front vom Staat vorexerziert, der zudem ständig nach mehr Steuern und höheren Gebühren und Abgaben lechzt − hinterlässt unserer Nachfolgegeneration horrende Schuldenberge und belastet sie mit der Bezahlung unseres heutigen Wohlstandes. Solches Verhalten ist nicht nur unsolidarisch, sondern geradezu verantwortungslos.
In einem echten Existenzkampf stehen heutzutage nur wenige. Das soziale Netz verhindert die schlimmste Not. Eine zunehmend grössere Anzahl von Arbeitnehmern und Selbständigerwerbenden, zum Beispiel Bauern, kämpfen aber um die finanzielle Eigenständigkeit. Auch Klein- und Mittelbetriebe haben teilweise grösste wirtschaftliche Probleme. Immer mehr Leute erzielen mit ihrer Arbeit zu wenig Einkommen, um auch nur das Notwendigste mit eigenen Mitteln bezahlen zu können.
Heute, kurz vor der Jahrtausendwende, sehe ich nur eine Möglichkeit, unsere Zukunftsprobleme zu meistern, indem wir neu zu solidarischem Verhalten finden. Wir müssen aber auch den Gürtel enger schnallen. Begehrlichkeiten und Ansprüche sind zurückzuschrauben. Wir haben uns auf das Wesentliche zu beschränken − auch oder gerade der Staat. Nur so werden wir eine neue Solidarität leben können. Rentner, Junge, Angestellte, Arbeiter, Bauern, Wirtschaftsführer, Medienschaffende. Politiker, Richter, alle brauchen einander. Ein Umdenken in Richtung Solidarität wäre ein hoffnungsvoller Ansatz für einen Fortschritt unserer Gesellschalt im neuen Jahrtausend. Der Begriff Solidarität ist also weit mehr als nur ein Schlagwort, er steht für die Hoffnung auf eine Zukunft.
Demokratie ist ein Leben mit Kompromissen − basierend auf Solidarität.




Vinzenz Bütler,
Sozialvorstand